Full text: Kurzgefasstes Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen

Zu Zeugnisfähigkeit. 
Es handelt sich nicht nur darum, ob deutliche Verstandesschwäche zu- 
tage tritt, sondern es werden ausserdem mannigfache krankhafte Ein- 
flüsse wie Wahnvorstellungen, Sinnestäuschungen, Gedächtnisstörungen, 
ungenügende Reproduktionstreue infolge überwuchernder Phantasietätig- 
keit und fehlender Selbstkritik die Aussagen eines geistesgestörten Zeugen 
ohne seine Absicht fälschen; melancholische Hemmung, manischer Über- 
schwang, paranoisches Misstrauen sind auf Vollständigkeit und Zuver- 
Jässigkeit des Bekundeten von weitgehendem Einfluss. Dasselbe gilt 
natürlich von unbeeidigten Zeugenaussagen Geisteskranker, nur dass 
eben diesen kein so gefährliches Gewicht beigelegt wird. Für die Ent- 
scheidung des Sachverständigen kommt unter Umständen auch die 
grössere oder geringere Einfachheit des Falles, über den der Zeuge 
gehört werden soll, in Betracht. 
Nicht nur falsche Anschuldigungen gegen andere, auch falsche 
Selbstbezichtigungen werden von Geisteskranken vorgetragen und vor 
Gericht vertreten. Meist spielt hier Versündigungswahn Melancholischer 
eine Rolle. In wieder anderen Fällen ist die Selbstbezichtigung zwar 
begründet, aber die Reue, welche nun plötzlich, vielleicht nach Jahren, 
zur Anzeige der begangenen Verfehlung treibt, hat krankhafte Wurzeln, 
und der ohne Zuziehung eines Sachverständigen verurteilte Geisteskranke 
wird erst im Strafyollzuge als solcher erkannt. 
Besonders bedenklich, weil schwer als falsch oder krankhaft be- 
gründet zu erkennen, sind die nicht so seltenen wahnhaften Einbildungen 
Hysterischer und Epileptischer, die teils aus den Erlebnissen flüchtiger 
Traum- und Dämmerzustände entspringen, teils Ausflüsse paranoider 
Erregungen bei krankhafter Reizbarkeit und ungetreuem Gedächtnis 
darstellen. Ferner bleiben aus pathologischen Rauschzuständen, alko- 
holischen und morphinistischen Delirien, nach den Halluzinationen eines 
Kokainisten hin und wieder derartige Residualwahnideen zurück. 
Die Unglaubwürdigkeit epileptischer Zeugen ist besonders be- 
rüchtigt. Ihre Lügenhaftigkeit wird bereits durch die Eigenartig- 
keit der epileptischen Charakterdegeneration bedingt. Nicht minder 
häufig begegnet man den sexuellen Anschuldigungen weiblicher Per- 
sonen mit hysterischem Charakter; neben Rachsucht bildet der 
Wunsch, eine Rolle zu spielen, die Haupttriebfeder zu ihren falschen 
Behauptungen. 
Die gleiche Beobachtung machen wir endlich bei psychopathischen 
Kindern. Der Wert von Kinderaussagen ist überhaupt infolge ihrer 
noch wenig gezügelten Phantasietätigkeit und grossen Beeinflussbarkeit 
gering und wird im allgemeinen von dem Richter, trotzdem jene unbe- 
eidigt bleiben, viel zu hoch eingeschätzt. Grösste Vorsicht ist hier 
am Platze! 
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