Full text: Kurzgefasstes Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen

Beispiele krankhaft falscher Anzeige. 
Beispiel 4. 
(Unterschlagung und falsche Anzeige bei hysterischer Pseudologia phan- 
tastica. S$ 51 St.G.B. angenommen.) 
Das 20jährige Dienstmädchen Bertha B. wird beschuldigt, 7 Mark unter- 
schlagen zu haben, die sie zur Bezahlung einer Rechnung mitbekommen hatte. Sie 
selbst behauptet, auf der Strasse überfallen und beraubt worden zu sein. Ein früherer 
Bekannter Jean M., der ihr aus Liebe seit Jahren nachstelle, und den sie nicht er- 
hören wolle, sei ihr plötzlich entgegengetreten und habe sie mit der Faust auf den 
Kopf geschlagen, dass sie bewusstlos geworden sei. Als sie erwachte, habe sie die 
Börse mit 7 Mark und einem Brustbeutel mit 50 Mark, die sie vom Vater er- 
halten, zugleich vermisst. Im weiteren Verhör verwickelte sie sich in Widersprüche. 
Es hatte geregnet, aber ihre Kleider waren nicht schmutzig. Ein Mann des Namens 
existierte nicht. Der Vater bestritt, ihr je 50 Mark gegeben zu haben. Bei ihr 
fanden sich mit Jean M. unterzeichnete Briefe an sie, die sie selbst geschriehen 
hatte, und die romanhaft gewortet waren, z. B.: „Ich weiss, Sie werden kommen 
trotz aller Warnungen. Ich will es so; Ihr Wille ist nicht massgebend, sondern der 
meine! Sie werden stets tun, was ich will, wie bisher. Wenn ich ihnen befehle: 
Gehe in den Main, so werden Sie es tun. Sie werden sich im Geiste alles wieder- 
holen, was Sie hier lesen, immer wiederholen, fühlen Sie meine Macht, ich werde 
kommen. Ich bin über alles gut orientiert, meine Leute arbeiten gut. Also Sie 
werden gehorchen und kommen. Es wird Sie keine Ruhe lassen, bis Sie kommen!“ 
Sie behauptete weiter, der Jean M. habe verschiedentlich bei ihr einzudringen ver- 
sucht. Zu einem Geständnisse war sie nicht zu bewegen. Sie bat um Verhaftung 
des Jean M., damit sie endlich Ruhe habe. Er stelle ihr bereits seit ihrem 16. Lebens- 
jahre nach. Die Dienstherrschaft hält die B. für nicht normal, da sie immer schon 
die wunderlichsten Dinge behaupte, sehr nervös sei. 
Der Grossvater mütterlicherseits war geisteskrank, die Mutter ist sehr erregbar, 
eine Schwester leidet an hysterischen Krämpfen. Die B. litt früher an Ohnmachts- 
anfällen, las immer sehr viel, hatte starke nervöse Menstrualbeschwerden, war ängst- 
lich, sah abends schwarze Vögel, hatte mitunter das Gefühl, als drücke ihr jemand 
die Kehle zu, Sie wurde zur Beobachtung der Klinik zugeführt. 
Gut genährtes Mädchen. Rachenreflex fehlt. Zittern von Zunge und Händen. 
Lebhafte Sehnenreflexe. Anästhetische Zonen. Schreit im Schlafe auf, sieht schwarze 
Äffchen, einen Gehängten am Galgen über dem Bette. Tags wird es ihr plötzlich 
dunkel vor den Augen, es schwebt ihr was um den Kopf, wie schwarze Vögel. Will 
öfters das Gesicht des Jean M. vor sich sehen, wähnt, er sei auch in der Klinik. 
Hört ihren Namen rufen, hört Surren und Pfeifen. Wird plötzlich von Müdigkeit 
befallen, bekommt keine Luft. Sehr schreckhaft. In der Arbeit sehr ungleichmässig. 
An manchen Tagen ganz verträumt. An dem angeblichen Raubanfall hält sie zu- 
nächst hartnäckig fest, Allmählich geordneter,' gibt zu, nie 50 Mark besessen zu 
haben; die Briefe habe sie wohl selbst geschrieben; warum, wisse sie nicht. Es 
komme so über sie. Wird mit der Zeit unsicher mit ihrer Erzählung, räumt ein, 
die Verfolgungen des M. könnten vielleicht auf Einbildung beruhen, es kämen ihr 
mitunter sonderbare Gedanken, sie wisse nachher nicht, was wahr und was geträumt 
sei. Vielleicht sei sie gar nicht überfallen worden, sondern habe nur einen Schwindel- 
anfall, wie öfters, gehabt. Von dem Verbleib der 7 Mk. will sie nichts wissen. 
Schwer hysterisches Mädchen, das sich in romanhafte Wachträume einspinnt 
und die Kritik gegenüber den Ausgeburten ihrer krankhaften Phantasietätigkeit ver- 
liert, so dass $ 51 St.G.B. in Frage kommt. Wird nach Darlegung dieser Verhältnisse 
vom Schöffengericht fıeigesprochen. 
Beispiel 5. 
(Erpressung und falsche Anzeige auf Grund sexueller Wahnideen. [Ex- 
pansive Paraphrenie] Unzurechnungsfähigkeit). 
Die 41jährige Margarethe S. hatte den Armenpfleger F. um Unterstützung 
gebeten und war daraufhin von diesem besucht worden. Tags darauf erhielt Herr 
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