Full text: Kurzgefasstes Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen

E Vorläufiges Attest. 
liessen, aber im Laufe des Verfahrens stellt sich heraus, dass sie nicht 
zur Durchführung ausreichen, 
Aus allen diesen Gründen empfiehlt es sich für den Gutachter, 
falls er die in Betracht kommenden Persönlichkeiten und ihre Verhält- 
nisse nicht schon von früher kennt, sich möglichst nicht auf eine einzige 
Untersuchung und Unterhaltung hin zur Ausstellung eines Zeugnisses 
zu entschliessen, sondern stets mehrere Vorbesuche anzustreben. Er 
hat dabei gleichzeitig den grossen Vorteil, dass er die Angelegenheit 
in aller Ruhe durchdenken kann. Ferner ist es wünschenswert, die 
Vorgeschichte nicht nur aus dem Munde des Antragstellers einzuziehen, 
vielmehr nach Möglichkeit eine Vertrauensperson des Patienten ebenfalls 
zu hören. Immer mache man sich sorgfältige und getrennte Notizen 
über das, was die verschiedenen Gewährsleute bekundet haben, und ver- 
gleiche sie mit den Eindrücken der eigenen Untersuchung. Ist der 
Kranke so verschlossen und unzugänglich, dass man fast ausschliesslich 
auf fremde Angaben angewiesen ist, so bringe man das im. Zeugnisse 
auch zum Ausdruck. Man darf ruhig in das vorläufige Attest hinein- 
schreiben: „Und erscheint, falls die Angaben der Angehörigen richtig 
sind, zur Entmündigung geeignet.“ Ja, man mag gelegentlich sogar be- 
tonen, dass man sich nicht klar sei über den Fall. 
Immer beachte man, dass ebenso wie nicht jeder Geisteskranke 
unzurechnungsfähig ist, auch nicht jeder Geistesgestörte ohne weiteres 
der Entmündigung bedarf. Übrigens gehen Entmündigungsbedürftigkeit 
und Unzurechnungsfähigkeit durchaus nicht immer Hand in Hand. Zur 
Entmündigung ist stets eine bestimmte Voraussetzung erforderlich: Der 
Kranke muss ausserstande sein, seine Angelegenheiten zu be- 
sorgen! Damit tritt offenbar etwas ganz Neues in den Kreis unserer 
Betrachtung. Nun ist weiter zu fragen: Welchen Umfang haben „seine“ 
Angelegenheiten? - Ein Mann in verantwortlicher Stellung oder mit 
grossem Vermögen, das er selbst zu verwalten pflegt, wird viel eher 
eines Vormundes im Falle geistiger Erkrankung bedürfen, als ein be- 
sitzloser Tagelöhner, der sich durch einfachste Handarbeit seinen Unter- 
halt erwirbt. Auch hier können sich im Laufe des Verfahrens Gesichts- 
punkte ergeben, welche dem Arzte bei Ausstellung seines vorläufigen 
Zeugnisses nicht voll bekannt gewesen waren. 
Ein gewiegter Entmündigungsrichter wird auf Grund langjähriger 
Erfahrung das geeignete Material in der Regel selbst zu beschaffen 
wissen. Doch kann es im Interesse einer Beschleunigung des Verfahrens 
zweckmässig sein, wenn der Arzt, welcher das vorläufige Zeugnis aus- 
stellt, zugleich den Antragssteller darauf aufmerksam macht, welche Punkte 
in erster Linie betont und durch Zeugen festgestellt werden sollten. 
Sonst mag es gelegentlich geschehen, dass gerade die Hauptsache nicht 
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