Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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an. Hält nun aber der eine Teil sich schon an sich sür allseitig, 
vollkommen und vollständig, dann kann unmöglich von einer Ver 
einigung mit den andern Gleichberechtigten zu seiner Ergänzung 
die Rede sein. — Darf nun aber wohl bei Eingehung einer Ehe 
der eine Teil jemals sich beschweren über den Verlust seines Na 
mens, seiner Freiheit, seiner Bequemlichkeit und gewisser Rechte? 
Vor der Vereinigung darf er es ungehindert tun, niemand zwingt 
ihn zu derselben; wir dürfen ihn höchstens spröde und einseitig 
nennen und auf die später unausbleiblichen Folgen einer solchen 
eigen süchtigen Isolierung aufmerksam machen. Ist hingegen 
wahre Liebe da, so wird der eine sich leicht in den andern schicken, 
und jedes aus Liebe gebrachte Opfer wird ihn nicht nur nicht ge 
reuen, sondern ihm reichlich gelohnt. 
Eine solche wahre Union, von welcher wir hier reden, kann 
nun unmöglich dadurch zu Stande gebracht werden, daß man, 
wie man leider oft und lange genug, meistens reformierterseits 
versucht hat, die beiderseitigen Differenzen möglichst abzuschwächen, 
die eigentümlichen Lehren aufzugeben und die Kirchen Zu uni 
formieren sucht (unio ternperativa); es wäre das ebenso vergeblich 
und ungereimt, als wenn man durch solches äußerliches Annähern 
unb durch Austilgen aller Unterschiede eine Ehe bewirken wollte. 
Und noch ungerechter, aber noch unmöglicher war es, wenn die 
lutherische Kirche immer die reformierte ohne Weiteres in sich auf 
nehmen und verschlingen wollte, wie die katholische Kirche alle 
Nichtkatholiken (unio absorptivu), gerade als wenn der Mann der 
Frau alle Selbständigkeit und Eigentümlichkeit nehmen wollte. 
Einen solchen lt ebertritt der einen Kirche zur andern ver 
langen, hieße Gottes Werk in ihr verkennen, der geschichtlichen 
Entwicklung von Jahrhunderten Hohn sprechen und in eigensüch 
tiger Verblendung bei sich nur Gutes, bei dem andern nur Man 
gelhaftes oder Falsches sehen. Jede dieser beiden Kirchen ist aber 
entstanden unabhängig und selbständig von der anderen durch 
unmittelbare Reformation aus der katholischen Kirche; sie sind 
beide historisch, politisch, kirchlich und christlich gleichberechtigt; 
sie sind bei aller verschiedenen Eigentümlichkeit beide echte und gut 
geartete Kinder eines Vaters: es kann also zwischen diesen Zwil 
lingen, die einst im zartesten Alter, ohne sich zu kennen, an der 
Mutterbrust vereinigt waren, nachher aber in heftigem Hasse gegen 
einander entbrannten und sich gänzlich verkannten, nur von Ab 
brechung der absichtlich errichteten Scheidewände, von gleichmäßiger 
Anerkennung, von inniger Liebe und neuer Vereinigung die Rede 
sein, um gleichsam durch einen chemischen Prozeß die beiderseiti 
gen Vorzüge vollkommen zu verschmelzen, die beiderseitigen Män 
gel aber auszuscheiden, und eine vollkommene Einheit anzustreben 
(unio conservativa). Freilich stehen einer solchen Wiedervereini 
gung nach langem, verjährtem Hasse fast unüberwindliche Schwie 
rigkeiten entgegen, und es bedurfte einer gemeinsamen tiefen De 
mütigung, einer gemeinsamen Wiedergeburt, che die neuerwachte 
gegenseitige Liebe die Besiegung aller Hindernisse unternehmen 
konnte.
	        
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