Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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der lutherischen Orthodoxie so eng abgesteckt, daß teils einige sonst 
wohl noch als lutherisch anzuerkennende Kirchen fid> ausgeschlossen 
sehen mußten, teils aber auch die so um den vierten Teil in 
Deutschland geschmälerte lutherische Kirche selbst in toter Buchsta 
ben-Orthodoxie erstarren mußte, bis sie sich selbst von innen her 
aus wieder Lust machte. Das geschah nun teils durch die mit 
der zu äußerlich gewordenen Kirche unzufriedenen und immer 
mehr sich vermehrenden Mystiker und Separatisten, teils durch Georg 
Calixtus (seit 1610) durch den Versuch, alle heftig miteinander 
streitenden Kirchen durch gemeinsames Zurückgehen auf die ersten 
Jahrhunderte gti vereinigen. Da er jedoch in seiner Wirksamkeit 
sich nicht innig genug und nicht vorzugsweise an den lutherischen 
G l a u b e n s gründ anschloß, so hatte dieselbe keinen bedeutenden 
Einfluß auf die innere Ausbildung der lutherischen Kirche, son- 
derir nur auf die Umgestaltung der lutherischen Theologie. Jedoch 
bereitete er eben durch ein Dringen auf gründlicheres Studium der 
Kirchengeschichte, der Exegese und der Moral die ein halbes Jahr 
hundert nach ihm von Spener begonnene Reformation der luther 
ischen Kirche wesentlich vor. Ehe wir deren Einfluß auf Ausbil- 
dung und Ergänzung der lutherischen Eigentümlichkeit schildern, 
müssen wir kurz den Zustand der lutherischen und reformierten 
Theologie anschaulich zu machen suchen. 
Die christliche, näher die kirchliche Theologie der lutherischen 
Kirche bildete sich auf dem überaus günstigen Boden deutschen 
Fleißes, deutscher Gründlichkeit und Tiefe Schritt für Schritt unter 
den mannigfaltigsten Kämpfen und Revolutionen zu der bewnnder- 
ungswürdigen Höhe aus, welche die Schweizer, Franzosen und 
Engländer, bei welchen die theologische Wissenschaft, worin sie 
früher Deutschland weit übertrafen, jetzt fast gänzlich untergegan 
gen war, jetzt nicht mehr fassen und verstehen, sondern nur an 
staunen konnten. Aber auch diese großartige Entwicklung der lu 
therischen Theologie zeigt uns aufs deutlichste, daß die Kirche 
nicht aitf das Prinzip strenger Biblicität, sondern auf das Prinzip 
der Rechtfertigung durch den Glauben gegründet war. Denn wir 
finden 150 Jahre lang, von Luthers Tod bis zu Speners Zeit, 
durchaus keine bedeutenden Leistungen in der Bibelerklärung, so 
daß das einzig bedeutende Werk (Calov's) erst durch die Opposi 
tion gegen den reformierten Grotius veranlaßt wurde und Spener 
in seiner Kirche keine ihm genügenden Exegeten fand, sondern sich 
an die reformierten Grotius und Cocceius halten mußte. Ja es 
wurde sogar an den Universitäten, wie auch auf den Kanzeln gar 
keine zusammenhängende B i b e l e r k l ä r u n g 
getrieben, keine Exegese gelesen und die biblischen Kollegien An- 
ton's und Frnnkc's als eine ungehörige Neuerung in Leipzig 
verboten. Die Reformierten dagegen suchten vor allem andern 
das Fundament, auf welches sie sich von neuem und ausschließlich 
begründet hatten, die heilige Schrift, auf das sorgfältigste nach 
allen Seiten hin gründlich gn durchforschen und haben daher auch 
bis zuni 18. Jahrhundert unter Vernachlässigung der meisten an 
dern theologischen Wissenschaften eine Menge der ausgezeichnetsten
	        
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