Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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mehr vereinzelt und nicht als ineinander greifende Glieder eines 
größern Organismus erscheinen. Denn die reformierte Kirche hat 
eigentlich gar kein reines Interesse an der Wissenschaft a I s 
solche r, sondern nur, je nachdem sie sich derselben zur Vertei 
digung, zur Begründung und zur Ausbildung ihres biblischen Cha 
rakters bedienen kann. Der Reformierte will aber auch eigentlich 
nur biblische Dogmatik und kehrt zu dieser immer von neuem, 
höchstens nur von einer andern Seite oder mit einer andern Me 
thode zurück. Ebenso sehnt er sich auch garnicht nach miss e n- 
s ch a f t l i chj e r Moral, wenn er nur eine b ibli s df e und 
praktisch- kräftige Sittenlehre hat. Es entstanden zilr Vertei 
digung gegen Katholiken und Lutheraner wohl gleich anfangs meh 
rere bedeutende kirchengeschichtliche Werke, aber dabei blieb es auch 
nachher. Auf die Exegese wandte man aller Orten den vorzüg 
lichsten Fleiß, und im sechzehnten imb siebzehnten Jahrhundert 
finden wir bei den Reformierten die bedeutendsten und besten Bibel- 
erklärer, vorzüglich auch des von den Lutheranern so sehr ver 
nachlässigten, von den Reformierten dagegen stets mit Vorliebe be 
handelten Alten Testaments. Aber nachher begnügte man sichhier- 
mit, und mit dem Studium der übrigen theologischen Wissenschaf 
ten erlosch auch der exegetische Fleiß. Nur die praktische Theologie 
wurde, nicht wissenschaftlich, sondern praktisch bearbeitet, und vor 
züglich erlangten die homiletischen Leistungen, begünstigt durch das 
fast ausschließliche Vorherrschen der Predigt im Gottesdienst, 
einen außerordentlichen Grad von VoHommenheit und Vortreff 
lichkeit, wie denn immer noch die Reformierten, bei aller theolo 
gischen Ungründlichkeit, in ihren Predigten die Lutheraner weit 
übertreffen. Mit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts scheint 
der von der Reformation her gegebene wissenschaftliche Aifftost all 
mählich unwirksam zu werden, und es' greift bei dem überwiegend 
praktischen Interesse ein Geist der Ungründlichkeit und Oberfläch 
lichkeit in der reformierten Theologie um sich, der, lvie es scheint, 
aus ihrer eignen Lebenskraft nicht mehr überwunden werden kann. 
Alle christliche Tätigkeit der Reformierten geht von da an mehr 
ans das Erfass e n unb Festhalten der christlichen Wahr 
heit als aus Erke n n t n i s und 8 egt ü n d u n g der er 
faßten Wahrheit, d. h. es gibt wohl viel Christentum bei ihnen, 
aber wenig Theologie. Was sie noch üou Theologie bedürfen, 
müssen sie jetzt von der lutherischen Theologie entlehnen und daher 
sogar mit lutherischen Theologen ihre Katheder besetzen *). 
Wir haben absichtlich die Entwicklung der reformierten Theo 
logie hier gleich bis auf unsre Zeit angedeutet; cs gibt in ihr 
*) Ich erinnere nicht nur an die fast ausschließlich lutherischen Professoren 
an den preußischen Universitäten, sondern auch an die geringe Bedeutsamkeit der 
reformierten Universitäten in späterer Zeit, z. B. Duisburgs, Frankfurts, Mar 
burgs und Basels, bis die beiden erster» aufgehoben wurden, und die beiden 
letztem, wie auch Zürich, Bern und Genf, durch Lutheraner sich ergänzt haben, 
wodurch der allerdings schwierige Anfang zur theologischen Versehnielznng der 
beiderseitigen Eigentümlichkeit gemacht ist.
	        
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