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bicierte diesen von neuem aus der Schrift ihre priest er
lichen Rechte; suchte durch Katechismusübungen ihre Schrift
erkenntnis gii fördern und durch Privatversam m l u n g e n
(Conventikel) ihr religiöses Leben zu einem bewußten und selb
ständigen zu erheben, um dann ihre Mitwirkung an der Leitung
der Kirche durch Einrichtung von Presbyterien zu erlan
gen, „deren Muster ihm die reformierte Gemeinde Frankfurts ge
geben hatte." Zu seiner großen Verwunderung fand er, aus
Süddeutschland kommend, zuerst in Dresden den von deir Reformier
ten stets als unbiblisch verworfenen Gebrauch des E x o r c i smus
bei der Taufe, und die Notwendigkeit der Privatbeichte war ihm
aus der Schrift nicht klar; daher die Heftigkeit seines Schülers
I. C. Schade gegen dieselbe, wobei die Lutheraner klagten, „das
geschehe den Reformierten zu Gefallen." Er suchte den unschrift
mäßigen, von den Reformierten stets verworfenen Gebrauch von
vorgelesenen Gebeten gegen das aus dem lutherischen Got
tesdienste fast ganz verdrängte, freie Gebet aus dem Herzen zu
ermäßigen. Dagegen fand er in der Schrift deutlich enthalten die
Lehre vom tausendjährigen Reiche (Chiliasmus), und nun konnte
weder die Verwerfung desselben in der Augsburgischen Konfession,
noch die heftige Opposition der lutherischen Orthodoxen gegen diese
ihnen sonderbar und gefährlich scheinende Lehre ihn abhalten,
sich entschieden zu derselben zu bekennen.
Wie heilsam, wie notwendig war diese auf dem echt luther
ischen Glaubensgrund beruhende, reformatorische Wirksamkeit Spc-
ners! Wie hätte durch dieselbe die lutherische Kirche neubelebt
und gründlich ausgebildet und vervollkommnet werden können!
Aber sie selbst vereitelte diese segensreichen Wirkungen; denn, an
statt freudig einzugehen in diese durchaus schriftmäßige Revision
und Regeneration ihrer lutherischen und informatorischen Eigen
tümlichkeit, sträubte sie sich im ganzen und ihrem größten Teil
nach aufs entschiedenste dagegen, und Spener und seine Anhänger
fanden nur bei dem kleinern Teil der Lutheraner partiellen und
individuellen Anklang und Beifall. Indem sich auf diese Weise
die lutherische Kirche und Theologie iin ganzen der von Spener
begonnenen Reformation entzog, wurden die sogenannten Pietisten
notwendig Gegner der ihnen feindseligen orthodoxen Kirche und
theologischen Gelehrsamkeit, verloren aber dadurch auch an inne
rer Haltung und Kraft, weshalb auch sie ebensowenig wie die
Orthodoxen nicht im stände waren, dem bald nach Speners und
seiner Schüler Zeit in die lutherische Theologie und Kirche ein
brechenden Unglauben auf die Dauer zu widerstehen. Ja die soge-
uannten Pietisten blieben nicht einmal lange solche echte Luther
aner, wie Spener und seine ersten Schüler gewesen waren, indem
die ihnen feindseligen Orthodoxen, welche allein die wahre luther
ische Kirche zu repräsentieren meinten, durch ihre Opposition sie
dazu nötigten, gegen ihren Willen mehr oder weniger heterodox
zu werden. Dadurch bekam der Pietismus aber eine gewisse un
lutherische, unkirchliche Färbung, wodurch er, ohne es zu wollen,
mittelbar viel zum nachherigen Verfall der lutherischen Kirche und