Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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ähnlicher Lieblosigkeit hinreißen, oder sie ließen sich aus übergro 
ßer Friedensliebe nicht selten zur Unwahrheit und Unredlichkeit 
verleiten, indem sie die obwaltenden Unterschiede so geringfügig 
und unbedeutend als möglich darzustellen suchten und dadurch ge 
rechten Argwohn erregten. 
Die Lutheraner waren daher auf der einen Seite bange vor 
den Reformierten, welche ihnen immer gefährlicher wurden und 
sich sogar mit List in die lutherische Kirche einschlichen, und auf 
der andern Seite ärgerlich und erbittert über den großen Abbruch, 
den sie durch ihre Gegner erlitten. Darum hat man, vorzüglich 
auf Anstiften der lutherischen Theologe n, die 1533 von der 
katholischen Maria aus London vertriebenen reformierten Exulan 
ten mit unerbitterlicher Strenge mitten im Winter aus Kopenha 
gen und nachher aus Lübeck, Rostock und Hamburg verjagt. Darum 
haben die Lutheraner selbst darauf gedrungen, daß die Reformier 
ten von dem Augsburgischen Religionsfrieden ausgeschlossen wur 
den, und sich von den Katholiken stets aufhetzen lassen wider die 
verhaßten Reformierten, sodaß Friedrich V. von der Pfalz als 
König von Böhmen den Mangel an Unterstützung von seiten der 
Lutheraner teuer bezahlen mußte. Darin lag eben das große Un 
recht, daß man eine theologische, kirchliche oder auch christliche 
Streitfrage mit solchem leidenschaftlichen, menschlichen und unchrist 
lichen Eifer behandelte und, was das Schlimmste dabei war, grade 
diesen Eifer für einen Beweis großer Christlichkeit hielt. Man 
kann sich von der in dieser Zeit herrschenden, zum Teil allerdings 
mit der roheren Zeit zu entschuldigenden Heftigkeit und Verketzer- 
ungssucht, mit welcher bei diesem Streit verfahren wurde, in un 
serer Zeit kaum einen Begriff machen, weshalb ich zur Charakter 
istik einige Proben hier mitteile. Plank sagt hierüber: „Es war 
der unnatürliche, über alle Grenzen hinausgehende Haß zwischen 
beiden Parteien zu einer Höhe angewachsen, die kein weiteres 
Steigen mehr zuließ. Nur muß man dabei sagen, daß die Refor 
mierten, so viel Mühe sie sich auch gaben, es doch nie so weit 
bringen konnten, daß sie den Reichtum und die Mannigfaltigkeit, 
die Fülle und das Pathos ihrer lutherischen Gegner im Schelten 
lind Strafen, im Verdammen und Verketzern hätten erreichen kön 
nen." Die Calvinisten und vorzüglich Calvin selbst wurden von 
den Lutheranern w e n i g st e n s ebenso sehr gehaßt und ge 
schmäht als der Papst und die Papisten. Und wie sehr diese feind 
selige Stimmung in das innerste Volksleben eingedrungen war, 
zeigen folgende Sprüchwörter,. deren letztes sich an einem Hause 
in Wittenberg findet: „Lieber papistisch als calvinisch;" „lieber 
mühammedanisch als calvinisch;" 
„Gottes Wort und Luthers Lehr' 
Vergehet nun urrd nimmermehr;" 
unb: 
„Gottes Wort und Luther's Schrift 
Ist des Babst's und Calvini Gift;" 
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