Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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samkeit als für Verkündigung des Evangeliums begeistert, bis ihnen, 
hauptsächlich durch die von Luther angeregte tiefreligiöse Bewe 
gung, die Sache des Christentums vor allen andern 
Hauptsache wurde. — Von allem diesem finden wir in Norddeutsch 
land entweder gar keine Spur, oder wenigstens nur spätere und 
schwache Schwingungen der großen Bewegungen Süddeutschlands, 
die vielleicht dort den einen und andern und allerdings auch Lu 
thers Herz berührten und ihn im Anfange auch zum Verehrer des 
Erasmus machten. Immer aber zeichneten sich die Süddeutschen 
— und auch ihr Landsmann Melanchthon — in Bezug auf klassi 
sche Bildung und Humanität vor dem in diesen Stücken ziemlich 
unbewanderten und rohen Luther aus, dessen allzugroße Derbheit, 
welche die Papisten und nachher die Schweizer so sehr verletzte, 
weniger aus seiner Zeit, als aus seiner Herkunft und aus 
seiner Bildung Wohl entschuldigt, aber nicht gerechtfertigt wer 
den kaniU). 
Wichtiger als diese politischen und wissenschaftlichen Verhält 
nisse, welche schon den Charakter der beiderseitigen Reformation 
wesentlich modifiziert haben würden, war die Verschiedenheit in 
Bezug auf die Frömmigkeit selbst, deren nicht befriedigtes Bedürf 
nis ja die eigentliche und nächste Veranlassung zur Reformation 
wurde. Das Bedürfnis nach wahrer Frömmigkeit mag wohl ur 
sprünglich beiden Gegenden gemeinsam gewesen sein, aber es 
äußerte sich auf sehr verschiedene Weise. Die echt deutschen Völker 
und vorzüglich die sächsischen Stämme zeichneten sich seit Jahr 
hunderten durch treue, innige Anhänglichkeit und blinde und 
unbedingte Unterwürfigkeit unter die Kirche und deren Oberhaupt, 
den Papst, aus; sie fanden für ihr tief religiöses Bedürfnis feine 
andere Befriedigung als im vollkommensten Gehorsam gegen die 
römische Kirche: nie hatte man in diesen Gegenden eine andere, 
wahre Kirche gekannt; Sekten und Ketzereien waren hier fast un 
erhört; daher war dort wohl allgemein gefühlter Druck und Unbe 
haglichkeit, aber kein zum Bewußtsein gekommenes und ausgespro 
chenes Bedürfnis nach einer Reformation, welches vielmehr in 
Luther selbst erst allmählich und fast gegen seinen 
Willen erwachte, um dann, als er es ausgesprochen hatte, bei 
dem ihn so ganz verstehenden Volke schnell Anklang zu finden, 
freilich zuerst wieder bei den viel mehr auf die Reformation vor 
bereiteten Städten Süddeutschlands * 2 ), 
Von dieser echt kirchlichen Frömmigkeit, als deren edelster 
Repräsentant Luther erscheint, finden wir bei den südlichen und 
westlichen Völkern nur wenig Spuren. Wir meinen hier weniger jene 
Menge frivoler Menschen, welche durch das neue Licht der Wissen 
schaft geblendet mit der Kirche auch das Christentum weggeworfen 
hatten und in ihrem Herzen bloße Heiden und Ungläubige gewor 
') Luther ronr wohl ein gelehrter Theologe, aber ungebildet, Zwingli 
weniger gelehrter Theologe als ein gelehrt gebildeter Prediger. 
2 ) lieberall waren es zuerst die Städte, Die kühn und mutig die Reformation 
durchsetzten (Reutlingen, Nürnberg, Magdeburg, Augsburg, Straßburg, Worms, 
Ulm, Memmingen, "Constanz, Zürich), während die größeren, monarchischen 
Staaten, und besonders Sachsen selbst, noch lange unentschlossen zögerten.
	        
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