Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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von seiten der Papisten, wenn nicht das eifrigste Ringen des be 
kümmerten Herzens nach Frieden in der Schweiz Veranlassung 
unb Prinzip der Reformation wurde, was war es denn, was den 
noch so vieler Gemüter so gewaltig begeisterte und eine Reforma 
tion hervorrief, die entschiedener und gründlicher als die lutherische 
war? Es war das positive Schriftprinzip, die 
Anerkennung des Wortes Gottes als unbedingter positiver 
Nor m und Quelle des christlichen Glaubens und Lebens 
oder, was im wesentlichen dasselbe istr das Streben nach der 
Verherrlichung Gottes durch u n b e d i n g t e Un 
ter w e r f u n g unter sein Wort gegenüber 
allen andern Menschengeboten. 
Wie waren nun aber Zwingli oder eigentlich alle reformier 
ten Reformatoren zu diesem positiven Schriftprinzip gekommen? 
Durch nichts Anderes als durch eine Operation i h r e s er 
leuchteten Verstandes. Schon seit längerer Zeit, seit 
Jahrhunderten waren in jenen Gegenden viele Christen und ge 
rade die Frömmeren zerfallen in ihrem religiösen Bewußt 
sein mit der römischen Kirche; sie konnten im treuen Festhalten an 
ihr und im Gehorsam gegen ihre Gebote nicht mehr die Beruhi 
gung des Gewissens finden, welche ihre Väter dabei gefunden 
hatten. Man war allmählich zur Erkenntnis des Verderbens 
der römisch-katholischen Kirche und ihrer Unangemesse n- 
h e i t zur Befriedigung der religiösen Bedürfnisse gekommen. Bei 
diesem Gefühl der Unbehaglichkeit im Schoße der Kirche 
wurden die Ansprüche derselben nur desto drückender; man wurde 
unwillig über die Kirche und fing an, über sie zu reflektie 
ren, und kam dadurch leicht zu der wichtigen Entdeckung, daß 
sie dem Ideal eines Reiches Gottes auf Erden, was zu sein sie 
behauptete, keineswegs entspreche. Indem man so sich lossagte von 
der unbedingten Autorität der Kirche, flüchtete man sich zu der 
letzten und höchsten Autorität, welche die Kirche selbst immer an 
erkannt hatte, zur Autorität des Wortes Gottes, der heiligen 
Schrift. In ihr fand man, was man suchte: Christum und seine, 
nicht des Papstes Lehre; ihren Vorschriften allein und nicht den 
Satzungen des Papstes mußte man gehorchen; sie war ewige, gül 
tige, göttliche, reine Wahrheit und zwar sie allein, gegenüber- 
allen menschlichen Erdichtungen. Ihr gemäß muß man leben, 
wenn man Christi Jünger sein will; von ihr aus muß man die 
falsche Kirche zerstören und eine neue, wahre aufbaueil. Diese 
Verstandesoperation, welche der positiven Autorität 
des Papstes und seiner Kirche die positive Autorität Gottes und 
seines Wortes entgegenstellt, hat alle jene früheren Reformations 
versuche ins Leben gerufen, die die reformierte Kirche als Vor 
arbeiten betrachtet; alle diejenigen antikirchlichen Sekten, die auch 
ans die Schweiz Einfluß gehabt haben, gründen sich auf dieses 
positive Schriftprinzip, auf die alleinige Autorität der heiligen 
Schrift für den Glauben unb für das Leben. 
Wir können uns schon auf den Erzbischof Claudius in dem 
benachbarten Turin berufen, der bereits positiv reformierend
	        
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