Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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verfuhr und in den Gebirgen am längsten Anhänger behielt. 
Deutlicher als bei ihm zeigt sich bei Peter von Bruys, der von 
1104 — 1124 in Südfrankreich wirkte, jenes positive Schriftprin 
zip, indem er alles, was er durch fleißiges Studium des Neuen 
Testamentes als ünb iblisch entdeckt hatte, verwarf; „er sprach 
mit Verachtung von der Kindertaufe, von Geheimnissen in Brot 
und Wein, von der Heiligkeit der Tempel," und entweihte darum 
die Kirchen, warf die Altäre um, verbrannte die Kreuze, verach 
tete das Fasten, mißhandelte die Priester. Hanrich, sein späterer 
Zeitgenosse, anfänglich selbständig, nachher an Peter sich anschlie 
ßend, predigte selbst in der Schweiz, in Lausanne. „Nach dem 
Bilde der apostolischen K i r ch e," das ihm stets als 
ein Ideal vorschwebte, verwarf er, a u ß e r jenen schon erwähnten 
kirchlichen Dingen, auch noch jede Opferidee im Sakrament und 
die guten Werke für die Verstorbenen. Wer verkennt hier das 
Prinzip der alleinigen Autorität der heiligen Schrift entgegen allen 
anderen ungöttlichen, menschlichen, kirchlichen Satzungen, in stren 
ger Konsequenz bis zum fanatischen Radikalismus durchgeführt, 
den wir ebenso finden bei den späteren Albigensern wie hei dem 
kirchlichen Republikaner Arnold von Brescia 1140, der sich auch 
in der Schweiz (in Zürich) aufhielt und auf Jahrhunderte lang 
dort das Ansehen der Klerisei erschütterte! Die stilleren Waldenser 
dagegen, pauperes de Lugduno genannt, suchten in aller Einfalt 
mit Wahrheit und Klarheit die alleinige Autorität des Wortes 
Gottes in Gemeinde- und Privatleben geltend zu machen. Daher 
trieben sie das Lesen der heiligen Schrift so eifrig, daß Männer 
und Frauen die Bibel ganz auswendig wußten, und verwarfen die 
römische Kirche als eine „Kirche der Bösen;" sie allein seien „die 
wahre Kirche Gottes"; bei ihnen, in der Armut, die wahre, alte 
Lehre; nur ihre Geistlichen haben den Binde-und Löseschlüssel; 
nur diesen müsse man beichten; Anhäufung der Pfründen sei un 
recht; seit Sylvester I. (zu Constantins Zeit) gebe es keinen Papst 
und keine Kraft der Sakramente der römischen Kirche mehr; den 
Priestern gebühren keine Zehnten und Opfer; es gebe kein Feg 
feuer, keine Fürbitte für die Verstorbenen; nur die in der Schrift 
verbotenen Verwandtschaftsgrade seien anzuerkennen; ein Stall sei 
ebenso heilig wie eine Kirche; nur Gott, und nicht die Jungfrau 
und die Heiligen, seien anzubeten; Weihwasser sei unnötig; welt 
lichen Herren, die nicht von ihrer Sekte seien, sei man keinen Ge 
horsam schuldig, besonders, wenn sie Sachen gebieten, die dem 
Glauben zuwiderlaufen; es gebe keine Festtage außer dem Sonn 
tag und keine Fastengebote". Ihr Katechismus ist durchaus 
biblisch gehalten und höchst einfach und praktisch; die Bibel als 
Gottes Wort war ihnen alleinige Richtschnur im Glauben und im 
Leben, und darum entzogen sie sich von der römischen Kirche und 
von allen jenen Dingen, weil sie davon garnichts in der Bibel 
fanden, richteten unter sich alles nach dem Muster der apostolischen 
Kirche ein und erhielten wegen ihrer einfachen und edeln Sitten 
selbst von ihren Feinden verdientes Lob. Sie gewannen schnell 
weitgreifenden Einfluß, kamen schnell in freundschaftliche Berührung
	        
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