Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

Gottes, betn man folgen, dem man gehorchen müsse. Wie sehr 
diese verschiedene Auffassung zusammenhängt mit der Art mtd 
Weise, wie die beiderseitigen Reformatoren zu der Reformation 
gekommen sind, leuchtet von selbst ein. Luther faßte, Paulo nach 
folgend, das Christentum als Verkündigung der 
Gnade, Zwingli und die Reformierten, dem Jakobus ähnlich, 
als heilsame Lehre; ja, das Wort Evangelium brauchen 
beide meistens sehr verschieden; Luther meint damit dessen Inhalt, 
die Gnadenverkündigung, Zwingli dessen Form, die in der heili 
gen Schrift enthaltene heilsame Lehre Christi. 
Von diesen Grundsätzen der alleinigen Autorität der heiligen 
Schrift und des Gehorsams gegen Gottes Gebote durchdrungen, 
sehen wir nun Zwingli sowohl selbst handeln, als seine Freunde 
stets ermuntern und belehren: „Sollte Christus um meinetwillen 
geschmäht werden, so setze ich keinen Fuß von hier; seine Sache 
soll nicht durch mich gefährdet werden," schreibt er kurz vor seiner 
Berufung von Einsiedeln nach Zürich, die er selbst, wie seilte 
Freunde schon damals als einen entscheidenden Schritt zu Gunsten 
der gewünschten Reformation ansahen. Und seinem Nachfolger 
Leo Judae schreibt er: „Das Volk wird dich Christum ebenso 
gerne predigen hören Inte mich." „Alles nun, was Zwingli in 
Zürich lehrte unb tat, atmete Christum; er schöpfte alle seine 
Lehren aus den heiligen Schriften." Kaum war er nach Zürich 
gekommen, so fing er die Reformation damit an, daß er sich los 
machte von dem Zwang, der den größten Teil der heiligen 
Schrift dem Volke unrechtmäßig vorenthielt und ihit nötigte, über 
die vorgeschriebenen alten Evangelien und Episteln zu predigen, st 
Er setzte, tmgeachtet alles Widerspruches, seinen Willen gleich 
durch, fing bei dem Evattgelium Matthäus an und erklärte dieses 
unter großem Beifall in fortlaufender Reihe unter steter 
Hinweisung auf Christum. Dann nahm er die Apostelgeschichte 
vor als Geschichte der Pflanzung des Christentums, dann aus 
1. Timotheus die Pflichte n des Christen, aus Galater seinen 
Glauben, aus 2. Timotheus die Pflicht des ch r i st- 
l i ch e n Predigers, sich den Irrlehren zu widersetzen und 
das Evangelium in feiner Reinheit zu erhalten und zu verbrei 
ten. Dann aus 1. Petrus dessen Uebereinstimmung mit Paulus 
und aus Hebräer, daß alle Opfer unnütz seien. Damit war er 
vier Jahre lang beschäftigt, in der Meinung: „Eine gründliche 
Kenntnis der christlichen Lehre aus der heiligen Schrift müsse der 
Abschaffung der Mißbräuche in der Religion vorhergehen, damt 
werden dieselben von selbst fallen." Seinent Beispiele folgten als 
bald seine Freunde, Hedio, Capito, Haller ec., und führten so 
die in der reformierten Kirche stets mit großer Vorliebe geübte, 
in der lutherischen Kirche nachher so sehr vernachlässigte, fort 
lau f e n d e Schrifterklärung i n Predigten ein. 
tz Luther und die ganze lutherische Kirche haben dieses, ungeachtet so vieler 
daraus entstehender Uebelstände, ungeachtet der entschiedensten Protestationen 
vieler Lutheraner in drei Jahrhunderten nicht getan, bis endlich die Union von 
diesem Perikopenzwcmge frei machte.
	        
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