Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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überhaupt durch große Treue und Genauigkeit auszeichnen, sind 
die des Sinnes wegen hinzugesetzten, nicht im Grundtexte stehen 
den Wörter mit besonderer Schrift oder mit Klammern bezeichnet, 
damit sogar der ungelehrte Laie auch hier Menschenwort und 
Gotteswort unterscheiden könne. Und wie die reformierte Kirche 
die Grenzen des Wortes .Gottes nicht genau genug bestimmen 
konnte, so hat sie die Beschränkung der Verkündigung des Wor 
tes Gottes auf nur wenige Abschnitte der heiligen Schrift, den 
Perikopenzwang, und überhaupt jedes Vorschreiben irgend eines 
bestimmten Textes immer als ein die Wirksamkeit des Wortes 
Gottes ungehörig beschränkendes und Gottes Ehre antastendes 
Menschengebot angesehen und stets verworfen. — Das starre Fest 
halten an dem Worte Gottes (wie sie Inhalt und Form ver 
wechselnd, die heilige Schrift stets zu nennen Pflegen) mußte die 
Reformierten äußerst argwöhnisch machen gegen jede an die hei 
lige Schrift angelegte Kritik. Daher verstieg sich auch die Ueber 
einstimmungsformel der schweizerischen Kirchen (1675) so weit, daß 
sie gegen Capellus „die vollständige Inspiration nicht nur der Sa 
chen und Worte, sondern auch der Konsonanten und Vokal-Punkte 
und Zeichen im Alten Testamente behauptete," damit es nicht, 
falls Capellus recht behielte, (wie sich Hottinger ausdrückt)„um 
die heilige Schrift geschehen wäre und die menschliche Vernunft 
die Norm der Religion würde." Diese Frage über die Inspira 
tion der hebräischen Punkte und was man von den verschiedenen 
Lesarten zu halten habe, welche in Deutschland längst entschieden 
war, hat die reformierten Theologen lange gequält. Mit dem größ 
ten Argwohn und unter dem unabweisbaren Verdachte eines nur 
aus Unglauben hervorgegangenen Interesses sehen die Reformier 
ten auf die kühne und freie Forschung der lutherischen Theologen 
über die Authentie und Kanonicitat der einzelnen biblischen Bücher. 
Natürlich mußten bei dieser Hochhaltuug der heiligen Schrift 
als alleiniger Norm des Glaubens und Lebens die G l a u- 
b e n s b e k e n n t n i s s e der einzelnen Kirchen, welche man nie 
wie die Lutheraner symbolische Bücher zu nennen pflegte, 
eine weit untergeordnetere Stellung erhalten, ja fast als bindende 
Norm verlieren. So lehrt uns auch die Geschichte. Die Luthera 
ner betrachteten die symbolischen Bücher als normal normatae, als 
durch die heilige Schrift beglaubigte Normen des Glaubens, die 
darum mit vollem Recht neben die heilige Schrift zu setzen 
seien und von ihnen auch immer neben der heiligen Schrift ge 
nannt werden. Man duldete durchaus nicht, daß man Fehler in 
ihnen als möglich und wirklich annahm, sondern schraubte ihren 
Wert bis zum göttlichen Ansehen hinauf, indem man nicht nur 
sie selbst, sondern auch ihre Verfasser für inspiriert erklärte, sodaß 
Spener und seine Anhänger mit dem entschiedensten Unwillen von 
symbolischer Abgötterei und von abgöttischem Mißbrauch der sym 
bolischen Bücher sprachen. Dies hätten die Reformierten für 
Gotteslästerung gehalten. Sie haben niemals irgendwie eine an 
dere Norm anerkannt als die heilige Schrift und ihr Glaubens 
bekenntnis nicht als Richtschnur (norma), sondern als Ausdruck
	        
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