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er sich jedoch, wenn wir auf die nächsten 150 Jahre nach seinem
Tode sehen, bitter getäuscht hat, indein es gleich nach seinem Tode
in Bezug auf die lutherische Reformation die angelegentlichste
Sorge der Fürsten so wie der Theologen, der Feinde sowohl als
der Freunde wurde, das an sich ehrenwerte Prinzip der Stabilität
bis zur Stagnation festzuhalten und nichts mehr zu ändern, als
Luther selbst geändert hatte, und alles möglichst in dem bei Lu
thers Tode befindlichen Zustand zu lassen. Die lutherischen Für
sten suchten, als Beschützer und Verteidiger der Kirche mit dem
alleinigen Reformationsrecht und dem landesherrlichen Episkopat
ausgerüstet, aus Furcht vor neuen Bewegungen und Kollisionen
mit den anderen Reichsstündcn jede weitere Ausbreitung der Re
formation nach anderen Ländern und jede innere freiere Aus
bildung zu hindern, was ihnen auch vollkommen gelang, da die
Theologen, die Wächter der Kirche, sich nicht nur ihren
hemmenden Bestrebungen nicht widersetzten, sondern auch selbst,
in die starrste Lutherolatriech versunken, in ihrem reformatori-
schen Verfahren gegen das Papsttum, im Wesentlichen um keinen
Schritt weiter gingen, als die Reformation 1646 oder schon 1630
gewesen war. Sie hemmten die ganze Entwicklung der Kirche,
die kaum im Beginn gewesen war, durch starres Festhalten an
dem Zustande, in welchem Luther sie gelassen; sie führten nach
dem einstimmigen Zeugnis edler Männer beider Konfessionen ein
neues Papsttum ein, das nicht viel besser war als das römische,
und schlossen die lutherische Orthodoxie besonders durch Einsüh-
rüng der Konkordienformel 1580 in so enge Grenzen ein, daß ein
nicht unbeträchtlicher Teil der lutherischen Kirche außerhalb dieser
engen Grenzen bleiben mußte und notgedrungen zum Teil sich den
Reformierten in die Arme warf.
Hierzu kamen nun noch die beständigen Angriffe und gewalt
sam aufgenötigten Vereinigungsvorschläge der Katholiken, welche
die Lutheraner nicht nur nicht in dem erworbenen Besitz geschützt
wissen, sondern durch Reaktionsmaßregeln, wenn nicht vollständig
wieder in den Schoß der römischen Kirche, doch um keinen einzi
gen Schritt weiterkommen lassen, ja sogar um einige bedeutende
Schritte zurückdrängen wollten. Durch das von dem Kaiser 1548
erlassene Augsburger Interim, „nach welchem sich alle Stände cinst-
0 Man kann sich schwerlich von der alles Maß überschreitenden, allen
Fortschritt der Reformation gänzlich hemmenden und unter Luthers Buchstaben
knechtenden Luthcrvlatrie, wie sie 150 Jahre lang getrieben wurde, einen rechten
Begriff machen. Sein Wort ward nicht nur entscheidende, sondern auch bindende
Autorität. Man schrieb sogar, weil Luther doch selbst viel freier und hcterodoxer
gewesen war als die spätere lutherische Kirche, ein Buch: „daß Luther ein echter
Lutheraner gewesen sei" und unzählige Bücher mit folgende» Ueberschriften;
„Luther, der Engel mit dein ewigen Cvangelimn in der Apokalypse: Luther ein
Prophet, nebst Sammlung seiner Weissagungen; Luther mit Abrahmn verglichen ;
Luther der zweite Mose; der zweite Samuel; der dritte Elia; Luther verglichen
mit Johannes dem Täufer; mit Johannes dem Evangelisten; mit dem Apostel
Paulus; Luther ein Märtyrer; ein Heiliger; ein Wundertäter; eine Sonne; ein
Stern; „der Lichtträger;" man bewahrte von ihm alle möglichen Sachen als
Religuicn auf, während man von Zwingli und Calvin nichts der Art hat, kaum
deren Grabmal kennt.