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mich vor einer Kirche, darin eitel Heilige sind." Und nachher
wurde ausdrücklich, vielleicht gar im Gegensatze gegen die Refor
mierten, von den Lutheranern der der Entwicklung der christlichen
Sittenlehre keineswegs günstige Satz aufgestellt: „Christus ist kein
Gesetzgeber", „die Christen sind von allem Gesetz entbunden", „das
Evangelium ist kein Gesetz", „Gottes Gebote zu halten ist unmög
lich." Daher behielt auch in der lutherischen Kirche die Sitten
lehre immer eine untergeordnete Stellung und wurde stets mehr
auf die vorhergehende Glaubens lehre als auf die Grund
lage der G e b o t e Gottes in der heiligen Schrift gebaut;
es fehlte lange Zeit in der ganzen Kirche an jeder äußeren Dar
stellung und freien Entfaltung des christlichen Lebens, bis endlich
Spener in dieser Hinsicht als ein zweiter Luther auftrat.
Die Lutheraner reden zwar auch wohl viel vom Gesetz und
kennen ja sogar einen „dreifachen Gebrauch desselben," näm
lich: zur Erhaltung der bürgerlichen Ordnung, zur Bußpredigt und
zur Richtschnur für das Leben des Gläubigen. Aber sie denken
hierbei immer nur an das mosaische oder alttestamentliche Ge
setz, dessen zwingende Geltung als eines göttlichen Gebotes
für den gläubigen C h r i st e n sie daher mit vollem
Rechte leugnen. Aber nun konnten sie auch dessen dritten,
normativen Gebrauch nur „auf das noch llnbekehrte im Gläubi
gen," auf den alten Adam anwenden, weshalb sie auch gewöhnlich,
ganz nach Luthers Vorgang in seinen Katechismen, das Gesetz,
d. h. das mosaische oder die zehn Gebote, nur zur Bußpre
digt gebrauchten, welcher sie denn aus dem Neuen Testamente
die Gnadenvevkündigung, das Evangelium, ent
gegenstellten und so die ganze heilige Schrift in G e s e tz (= Altes
Testament) und Evangelium Neues Testament) einteilten.
Diese bei den Lutheranern so gebräuchliche Einteilung der heili
gen Schrift kennt die reformierte Kirche eigentlich gar nicht; sie
sieht vielmehr den Unterschied von Gesetz und Evangelium
sich durch das Alte wie durch das Neue Testament hindurchziehen
und benutzt daher aus dem Alten Testament weit lieber und weit
häufiger die vielen herrlichen Verheißungen als die weni
gen Stellen, welche sich auf das Moralgesetz beziehen *).
Sie findet dagegen i h r Gesetz vorzugsweise in den morali
schen Vorschriften des Neuen Testamentes, d. h. Christi
und seiner Apostel, welche ja dort auch nur wahrhaft Gläubi
gen gegeben sind und also auch jetzt noch nur dem wahrhaft
Gläubigen als solchem gelten und daher keineswegs als Buß
predigt, sondern als positive, göttliche Lebensregel unter Voraus
setzung des Glaubens an Christuni und also nicht vor dem Glau
ben, sondern nach demselben zu behandeln sind. Daher kommt
auch in den reformierten Katechismen häufig (z. B. im Genfer,
im Englischen, im Schottischen, im Heidelberger und sogar im
i) Zum Beleg können alle die häufigen rcformirten Predigte» über das
Alte Testament dienen, welche keineswegs Buß- vdcr Gesetzesprcdigtcn sind.