Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

Einleitung 
Es sollen hier die beiden evangelischen Kirchen nach ihrer 
religiösen Eigentümlichkeit miteinander verglichen 
werden. „Hat denn jede dieser Kirchen eine besondere Eigentüm 
lichkeit?" so höre ich manchen Leser verwundert fragen, und 
wahrlich nicht nur Laien, sondern auch Theologen, von denen ja 
bei weitem die Meisten niemals die Gelegenheit hatten und suchten, 
die andere Kirche aus eigener Anschauung oder auS unparteiischen 
Darstellungen gründlich kennen zu lernen, welche daher dieselbe 
ihrem Wesen und ihrer Erscheinung nach immer nur von ihrem 
einseitigen Standpunkte aus, nach dem Maßstabe ihrer Kirche, ich 
möchte sagen, mit lutherischer oder reformierter Brille ansehen. 
„Ich meinte, die Differenzen der beiden Kirchen seien höchst unwe 
sentlich und erstreckten sich höchstens auf die beiden vielbesprochenen 
und doch nie entschiedenen Streitfragen vom Abendmahl und von der 
Prädestination! Gibt es denn noch andere, wesentliche Verschie 
denheiten, die näher zu untersuchen der Mühe wert ist, und die sich 
auf eine, das Wesen der Kirche und ihre Erscheinung wesentlich 
bestimmende, religiöse Eigentümlichkeit derselben zurückführen lassen? 
Ich meinte, die lutherische Kirche heiße darum lutherisch, weil 
sie die sogenannte lutherische Abendmahls- und Prädestinations 
lehre habe, und wer in dieser mit ihr übereinstimme, sei ein 
echter Lutheraner, und ebenso verhalte es sich mit der reformierten 
Kirche!" Solche und ähnliche Meinungen, die man immer nur 
zu häufig hört, kommen uns vor, wie das Urteil eines Kindes, 
das die Verschiedenheit des Apfelbaumes und des Birnbaumes nur 
an den schönen Aepfeln und Birnen zu erkennen vermag, und da 
her auch wohl den Birnbaum, an den man einen Apfel befestigt 
hat, in aller Unbefangenheit Apfelbaum nennt, als machte der Apfel 
den Baum (und die Lehre die Kirche), und nicht vielmehr umge 
kehrt. Wer jedoch näher nach der verschiedenen Art der Früchte 
(und der Lehren) nachforscht, findet allmählich, daß dieselbe we 
sentlich zusammenhängt mit der Verschiedenheit der Blätter, der 
Blüten, des Saftes, des Stammes, der Wurzel, daß alle diese 
Verschiedenheiten wieder herstammen von der ursprünglichen phy 
sischen Eigentümlichkeit des kleinen, irr die Erde gelegten Kernes 
oder des kleinen eingepfropften Reises, und daß die gründliche 
Erkenntnis der physischen Eigentümlichkeit dieses Kernes alle an 
deren Verschiedenheiten nicht mehr als zufällige, sondern als not 
wendige erscheinen läßt. So geht es auch mit den beiden einander 
so ähnlichen Kirchen; auch an ihnen entdeckt der schärfere Beob 
achter weit mehr Unterschiede, als der erste oberflächliche Anblick 
entdecken läßt; auch an ihnen erscheinen diese, wenn man nur auf 
die ursprüngliche religiöse Eigentümlichkeit zurückgeht, nicht mehr 
als zufällig, sondern als notwendig und wesentlich.
	        
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