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so daß ich mich kaum losreißen konnte. Nicht, daß ich wünschte, eine
so große, nach dem Worte Gottes so begierige Gemeinde zu be
lehren, sondern nur zu hören und zu lernen wie der Geringste im
Volk. In Genf wollte ich lieber der Letzte sein, als an einem an
dern Orte der Erste. Wem: nicht der Herr und die Liebe zu den
meiner Hirtentreue Anvertrauten anders geböten, so würde mich
nichts zurückhalten, wie ich immer im Geist mit jener Gemeinde
vereint bin, mich auch in ihr niederzulassen. Um dieselbe Zeit
ward Genf von den vielen dahin sich flüchtenden Fremdlingen „als
eine Musterschule des christlichen Lebens bewundert und nachge
ahmt." „Da ward in allen Tempeln und Häusern das lautere
Evangelium verkündet, da verstummte niemals der liebliche Gesang
der Psalmen, da waren bei Tag und Nacht Hände gefaltet und
Herzen erhoben zu dem lebendigen Gott. Denn es hatte den größ
ten Teil der Bewohner ein Sehnen ergriffen, von welchem der
Prophet in jenen Worten redet: von Herzen begehre ich dein des
Nachts, dazu mit meinem Geiste wache ich frühe zu dir". 50 Jahre
nach Calvins Tode schildert der edle Lutheraner Joh. Val.
Andrea, der bei seinem Aufenthalt in Genf einen tiefen, für sein
ganzes Leben entscheidenden Eindruck empfangen hatte, Genf mit
folgenden Worten: „Bei meinem Aufenthalt in Genf bemerkte
ich etwas sehr Wichtiges, daß ich aber ebensowenig vergessen, als
ich mich mein ganzes Leben darnach sehnen werde. Außer der
vollkommenen Form des Freistaates besitzt die Republik eine beson
dere Zierde an dem Sittengericht, das wöchentlich die Sitten der
Bürger, auch die kleinsten Ausschweifungen untersucht, erstlich durch
die Aufseher in den Stadtvierteln, dann durch die Aeltesten, end
lich durch den Rat selbst, wie es die Schwere des Verbrechens
oder die Herzenshärtigkeit des Verbrechers notwendig machen.
Dadurch werden alle Karten- und Würfelspiele, Schwören und
Fluchen, Mutwille, Unkeuschheit, Zank, Haß, Betrügereien, Geld
schneidereien, Saufgelage, Müssiggang, unmäßiger Zorn und der
gleichen verhütet, noch mehr also größere Verbrechen,
die hier u n g e wö h n l i ch und f a st u n e r hört
sind. Eine solche Sittenremheit ziert das Christentum am
allerschönsten und ist ihm ganz eigen und angemessen, so daß w i r
(Lutheraner) den Mangel derselben bei uns
n i ch t genug b e w e t; n e n könne n, u n d a l. l e
Rechtschaffenen an ihrer W i e d e r h e r st e l l u n g
arbeiten sollten. Entfernte mich nicht der Unterschied
der Religion von Genf, so würde mich die Harmonie der Sitten
auf immer au diese Stadt fesseln." Mit Recht sagt Montesquieu:
„Die Genfer sollten Calvins Geburtstag und den Tag seiner An
kunft jährlich feiern"; denn den auf das Wort Gottes gegründeten
bürgerlichen und- kirchlichen Einrichtungen Calvins verdankt es,
wie Senebier, selbst Prediger zu Genf, 1786 sagt: „einen langen
Wohlstand und eine seltene Reinheit der Sitten — so lange sie
dauerten, der Ruhm und eine der wichtigsten Stützen der Stadt."
Mit Recht rühmte man Jahrhunderte lang Genf wegen seiner armen
Regierung und seiner reichen Bürger, wegen seines Ueberflusses