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Schoß aufgenommen, gab ihm das Gnadenmittel der heiligen
Taufe, bereitete ihn durch Unterricht zum Empfang des andern
Sakraments vor und bewahrt fich immer durch das Beichtvaterver
hältnis, iu welchem jedes Gemeindeglied zu seinem Geistlichen
steht, eine genauere, mütterliche Aussicht. Wegen dieser von der
Kirche empfangenen Wohltaten bewahrt ihr der Lutheraner stets
eine treue Liede und dankbare Anhänglichkeit, wodurch die Kirche
in dem lutherischen Gemüte sich eine Macht erworben hat, die
auch durch gewaltsame Maßregln nicht gebrochen werden konnte.
Es stammt von der hohen Begeisterung für Luther eine noch immer
fortdauernde, innige Liebe und kindliche Anhänglichkeit gegen ihn
und gegen die ganze Kirche her, und darum führt der wahre Luther
aner mit Stolz und Freude Luthers Namen, den er wie einen Vater
ehrt und liebt; wovon wir in der reformierten Kirche gegen ihre Re
formatoren keine Spur findeu. Und mit diesem Namen erfreut sich
auch der Lutheraner einer großen, über die Grenzen einzelner
Länder und Deutschlands hinausreichenden, engverbundenen kirch
lichen Gemeinschaft. Diese Einheit festzuhalten, sich in ihr gegen
jede andere Kirche abzuschließen und durchaus kein SektenweWn
auskommen zu lassen, ward ausgesprochene Tendenz der ganzen
lutherischen Kirche, die immer auf Gemeinsamkeit und Ganzheit
hinarbeitete. Daher die Gemeinsamkeit der kirchlichen Bibelüber
setzung Luthers, welche die lutherische Kirche als einen ihr anver
trauten, unantastbaren Schatz betrachtet, welchen zu verändern und
zu verbessern sie sich nicht entschließen will. Daher die Gemeinsam
keit aller symbolischen Bücher; daher in der ganzen lutherischen
Kirche die wesentliche Uebereinstimmung des Kultus und der Kir
chenordnungen, welche in allen Ländern im wesentlichen nach
dem Muster der von Luther selbst in Wittenberg getroffenen Aender
ungen eingerichtet wurden; daher die wesentliche Gleichförmigkeit
der lutherischen Kirchenverfassung nach dem Prinzip des landes
herrlichen Episkopates, dessen Organ die den Reformierten so völ
lig fremden Konsistorien geworden sind. Durch diese Gemeinsamkeit
der wichtigsten kirchlichen Einrichtungen bildete sich denn nun
auch in der lutherischen Kirche eine gleichförmige, gemeinsame,
kirchliche Frömmigkeit. Von ihr beseelt, scheut der echte Luther
aner nichts mehr als Trennung und Spaltung der Kirche und
subjektive Vereinzelung und unterwirft daher oft, mit treuer Folg
samkeit und mit rührender Demut, seine subjektive Meinung der
objektiven Autorität der Kirche und wird daher, nur von seinem
Gewissen gezwungen oder mit Gewalt ausgestoßen, dieser seiner
Kirche entsagen, gegen welche er aber dennoch immer noch eine
solche Pietät hegt, daß er nicht leicht, in offener entschiedener Oppo
sition gegen dieselbe, seiner subjektiven Ueberzeugung durch Er
richtung einer Sekte Geltung zu verschaffen sucht. Böhme, Spener,
Zinzendorf bewahrten sich stets die innigste Anhänglichkeit gegen
ihre Kirche, welche sie dagegen höchst stiefmütterlich behandelte,
während sie in der reformierten Kirche mit dem besten Erfolg
Sektenhäupter geworden sein würden, was sie auf's entschiedenste
zurückwiesen.