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Wegen dieser Beugung der subjektiven, individuellen Meinung
unter die objektive Autorität der Kirche und ihrer Lehrer, welche
wir auch auf eine wahrhaft rührende Weise in Luther selbst er
blicken, nannte ich die Frömmigkeit des Lutheraners eine objek
tive und innerliche. Findet der Lutheraner im öffentlichen
Gottesdienste, weil er ihm zu mechanisch oder zu tot vorkommt,
nicht hinlängliche Befriedigung seines religiösen Bedürfnisses, so
sucht er, ohne sich von der Kirche selbst loszusagen, außerhalb
desselben Befriedigung in kleineren Versammlungen, in Konventi-
keln, die eine echte und vorzugsweise lutherische (speneri-
sche) Erscheinung sind, welche er aber wiederum am liebsten unter
kirchlicher Gestalt und von Geistlichen verwaltet sieht. Oder er
zieht sich auch von der äußern Kirche gänzlich zurück, wird in der
Stille Separatist, verwirft auch wohl die ausgeartete Kirche
gänzlich, ohne jedoch deren Umbildung zu versuchen. Er zieht sich
vielmehr auf die I n n e r l i ch k e i t seines religiösen Gefühls
zurück, bildet das mystische Element, was der lutherischen Kirche
vorzüglich durch Luther, „der das, was er gewesen ist, neben der
heiligen Schrift durch Tauler und die deutsche Theologie gewor
den ist," erhalten ist, weiter aus und wird Mystiker, (deren die
lutherische Kirche von Luther an immer eine zahlreiche Menge ge
habt hat: Weigel, Böhme, Gichtel, Arnd/ Arnold, I. Gerhard,
Oetinger, Hahn rc.); während dagegen die nüchterne und einfache
reformierte Kirche mit ihrem Phantasie- und schmucklosen Kultus
und nach ihrem so entschieden vorherrschenden Verstände nie
mals Mystiker erzeugt hat ft. Fand dagegen der gläubige Luther
aner in der Kirche selbst und in den von ihr dargebotenen Mitteln
Befriedigung seines religiösen Bedürfnisses, so gab er sich ihrer
Vormundschaft und der Leitung seines Beichtvaters mit vollem
Vertrauen hin und wurde dadurch, solange die Geistlichen selbst
einen lebendigen Glauben hatten und dieses kindliche Vertrauen
wohl zu benutzen verstanden, vor vielen gefährlichen Abwegen und
Verirrungen bewahrt und auf ruhigem, sicherem und gutem Wege
zur wahren Seligkeit geführt. Freilich haben aber auch später
schlechte Geistliche dieses unbedingte Vertrauen ihrer Gemeinde-
glieder schrecklich gemißbraucht, indem sie teils die eigentlichen
Herzensbedürfnisse durch leere Polemik oder tote Orthodoxie unbe-
friedigt ließen, teils selbst ganz ungläubig geworden, allmählich
und unverinerkt den Samen des Unglaubens in ihren Gemeinden,
ohne deren Wissen und Widersprechen, ausstreuen konnten, welche
Saat, gerade wegen der damals noch unerschütterten Autorität der
9 Der einzige reformirte Mystiker, Tersteegcn, fand für dies sein subjekti
ves Bedürfnis in der reformirten Kirche durchaus keine Befriedigung und wandte
sich daher zu den edel» Mystikern der katholischen Kirche, die ja immer dein
mystischen Bedürfnis (dein Bedürfnis des unmittelbare» Ergreifens Gottes durch
das Gefühl unter Hiiitansetzung der Verstandeserkenntnis) stets am meisten Nah
rung gegeben hat; weshalb sogar manche liltherische Mystiker, wie Silesius,
Christoph Besold und der treffliche Stollberg aus innerer Ueberzeugung
zur katholischen Kirche übertraten, wie auch die romanische Richtung eines Fr.
Schlegel, Novalis uiid Tick eine entschiedene Neigung gitr katholischen Kirche
erzeugt hat.