Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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Geistlichkeit und des nod} nicht geschwächten Vertrauens auf die 
seliginachende Kraft der Kirche, tiefe Wurzeln geschlagen hat, 
welche durch die zu neuem Glauben wieder erweckten Geistlichen 
wegen des ihnen jetzt entzogenen Vertrauens und des weit ver- 
breiteten Unglaubens an Gottes Wort schwer auszurotten sind *)• 
Auch die Art und Weise, wie der lutherische Christ noch neben 
dem öffentlichen Gottesdienst Privat-Erbauung gesucht und gefun 
den hat, trägt einen entschieden kirchlichen Charakter. Ge 
sangbuch und Bibel und etwa noch irgend ein Gebetbuch, aus 
welchem die Gebete regelmäßig gebetet wurden, halfen hier aus; 
oder es kam auch wohl ein anderes Erbauungsbuch hinzu, deren 
die lutherische Kirche eine so reiche Fülle besitzt (von Luther, Arnd, 
Gerhard, Müller, Scriver 2c.). Alle diese herrlichen Erbauungs 
bücher halten sich aber auch wieder fast durchgängig in k i r ch- 
I i ch e r Form, auf dem Standpunkt erbaulich angewandter Dog 
matik oder erbaulicher Betrachtung der heiligen Schrift oder in 
der Predigtform (Postillen). Sie gaben aber dem Volk, was es 
bedurfte, wie eine langjährige, gesegnete Erfahrung unwiderlegbar 
erwiesen hat. Die Reformierten haben dagegen, da ihre Dogma 
tik immer eine dürftigere und unausgebildetere geblieben ist, da sie 
an kirchlichen Liedern wesentlichen Mangel litten, und Gebet- und 
Andachtsbücher, ihrer Tendenz zum freien Gebet 
wege n, niemals gebraucht haben, Erbauung gesucht und gefun 
den, nicht in kirchlich-dogmatischen, sondern in b i b- 
lisch-praktischen Schriften, durch welche sie die echte Er 
weisung der christlichen Gesinnung kennen und ausüben lernen 
konnten. Während daher die Reformierten ihr Bedürfnis nach 
eigentlich kirchliche r Erbauung durch lutherische Erbauungs 
und Gebetbücher zu befriedigen suchten, an welchen ihre eigene 
Kirche großen Mangel hat, finden wir bei ihnen dagegen die ei 
gentümliche Erscheinung einer nicht kirchlichen, sondern christlichen 
schönen Litteratur, deren Verbreitung bis in die luthe 
rische Kirche hinein großes Interesse gefunden und viel Segen ge 
stiftet hat. Zum Teil waren diese christlichen Schriftsteller keine 
Geistlichen. 
Die christliche Frömmigkeit des Lutheraners erweist sich ferner 
als eine kirchliche, indem sie sich ganz an das Kirchenjahr 
anschließt. Weihnachten, Ostern und Pfingsten mit den sie beglei 
tenden Festzeiten find bei den Lutheranern die Höhepunkte des 
kirchlichen Lebens, das in den übrigen Teilen des Jahres sich 
ganz an die üblichen Perikopen anschließt, wogegen die reformierte 
Kirche in ihrer rein biblischen und unhistorischen Richtung den 
Cyklus des Kirchenjahres völlig ignorierte und gänzlich zerstörte, 
indem man anfangs durchaus keine andern Festtage feiern wollte 
i) Nicht leicht wird eine reformierte Gemeinde, schon wegen der verfassungs 
mäßigen Opposition und Konkurrenz der Laien, ihren Glanben sich unver 
merkt nehmen lassen, sondern entweder, wo ihr diese Gefahr drohen sollte, 
lieber sich von der Kirche selbst trennen als einen ungläubigen Lehrer dulden, 
oder sich von ihrem ungläubigen Prediger init Bewußtsein und Absicht 
schnell zum konsequenten Unglauben verführen lassen.
	        
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