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meßlichen Schatz der herrlichsten Kirchenlieder erzeugt, die nicht
nur für Einen, sondern für Tausende und Millionen gesungen sind
und nun schon Jahrhunderte lang zu stets erneuter Erbauung in
Kirche und Haus ertönen und in Herz und Mund jedes frommen
Deutschen eingedrungen sind. Unterstützt und gehoben wurde diese
geistliche Poesie zunächst im allgemeinen durch den immer noch
reich ausgestatteten und dem religiösen Gefühl unb der Phantasie
reichliche Nahrung gebenden lutherischen Kultus und ganz beson
ders durch die bedeutende Stelle, welche in dem lutherischen Got
tesdienste dem Gesang der Gemeinde gelassen war. Dazu kommt
noch die reiche und tiefe Auffassung des christlichen Glaubens mit
dem ganzen Gemüt, wodurch sogar nicht nur die Geistlichen, son-
deru auch viele Laien und selbst edle Frauen zum heiligen Ge
sang. d. h. ganz besonders zu dogmatischen oder festlichen Kir
chenliedern sich gedrungen fühlen, wodurch eine Zahl von we
nigstens 70000! Kirchenliedern und mehrere verschiedene geistliche
Gesangschulen entstanden. Aermlich und dürftig erscheint dagegen
die reformierte Kirche; neben mehreren Hunderten von lutherischen
geistlichen Dichtern kann sie nur einige wenige bedeutende Dichter,
die noch dazu den Lutheranern fast gänzlich unbekannt sind, auf
weisen.
Die einseitige Biblizität und das vorherrschende Verstandes-
element beim reformierten Gottesdienst, veranlaßte anfangs Zwing
li, der übrigens selbst mehrere geistliche Lieder dichtete, zu ver
suchen, den Gemeindegesang ganz zu verdrängen, der auch aller
dings a l s s o l ch e r in dem neuen Testament nicht erwähnt
wird; denn der dort empfohlene Psalmengesang war entweder nur
Privatgesang oder nur eines Einzelnen Gesang; die
ganze Gemeinde sang in der apostolischen Zeit wahrschein
lich nicht. Doch konnte Zwingli natürlich damit nicht durchdrin
gen und wollte es auch nachher nicht. Die gerade durch ihn mün
dig gewordene Gemeinde wollte auch bei ihrer gemeinsamen An
dacht nicht ohne Mund bleiben. Aber nun wurde doch nur so
wenig als möglich Gesang zugelassen und zwar nur biblischer Ge
sang, d. h. Gesang der in Reime gesetzten bibli
schen Psalmen. So fehlte es denn in der reformierten Kir
che lange Zeit an aller Aufmunterung zu Kirchenliedern, und als
endlich im 17. Jahrhundert vorzüglich die reformierten Gemeinden
Deutschlands das Bedürfnis einer Erweiterung des Umfangs ihrer
kirchlichen Gesänge fühlten, mußten sic von dem reichen Schatze
der Lutheraner das Notdürftigste entlehnen, bis auch einige refor
mierte Kirchenliederdichter aufstanden. Jmnrer aber waren unter den
150 Kirchenliedern, zu deren Gebrauch die reformierten Gemeinden
am Rhein sich bequemten, die meisten lutherischen Ursprungs. Die
Schotten hatten außer ihren gereimten Psalmen noch 67 andere
gereimte Umschreibungen bou (p r c> p h e t i s ch e ns Bibel-
fteiten und nur fünf Hymnen, fühlten aber diesen Mangel mich,
wie auch die Schweiz und Holland in neuester Zeit andere Lieder
als Psalmen in ihre Gesangbücher ausgenommen haben. Immer
aber halten die Reformierten an ihren Psalmen mit der innigsten