Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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Liebe fest, wie sie nur der frömmste Lutheraner gegen sein Ge 
sangbuch hegen kann. Die Einführung anderer Lieder hatte 
überall vielfache Opposition erregt und es gibt noch manche Hol 
länder, welche durchaus nur Psalmen singen wollen und die an 
dern neueingeführten Lieder gar nicht mitsingen, „weil deren Ein 
führung gefährliche Neuerung und ihr Inhalt nicht göttlichen Ur 
sprungs, wie der der Psalmen sei." 
Das innige und treue, ausschließliche Festhalten an den Psal 
men hat dagegen in der reformierten Kirche einen heiligen, alt- 
testamentlichen Psalmen- und Propheten-Geist erweckt, welcher oft 
sogar auch ihre christliche und kirchliche (homiletische) Sprache auf 
merkwürdige Weise durchdrungen hat. Am schönsten und leben 
digsten, aber auch am auffallendsten und bedenklichsten hat sich die 
ser phrophetische Psalmengeist bei den von den Heeren Ludwigs 
XIV. aufs Aeußerste verfolgten und aufs schrecklichste mißhandel 
ten Reformierten in den Cevennen (Camisards genannt) gezeigt, 
bei welchen die religiöse Begeisterung, genährt durch fast alleini 
ges Lesen der heiligen Schrift und stetes Singen der Psalmen, 
die merkwürdigsten Erscheinungen hervorrief. Unleugbar halten 
sie die Gabe zu weissagen, zu phrophezeien, d. h. kommende oder 
ferne Dinge zu schauen; sie redeten in ihrem begeisterten Zustand 
>vie mit neuen Zungen, meistens in rhythmischen, psalmartigen 
Gesängen, durch welche sie einander begeisterten zu dem heiligen 
Kampf gegen ihre Verfolger, denen sie unter Gottes Beistand mit 
wenigen Kräften einen erfolgreichen Widerstand leisteten. Diese 
Inspirierten, wie sic mit Recht und mit Unrecht genannt 
wurden, arteten nachher aus, indem sie ihre eigentümliche prophe 
tische Gabe auf andere, ihnen fremdartige Dinge anwandten und 
in Selbsttäuschung später dasjenige künstlich erzwingen wollten, 
was in ihnen nicht mehr die natürliche Folge wahrer Begeisterung 
war. Sie beunruhigten mit ihren Weissagungen alle protestanti 
schen Länder und verloren sich dann spurlos fast gänzlich. — 
Indem wir auf diese Weise die lutherische Frömmigkeit eine 
k i r ch l i ch e genannt haben, haben wir sie natürliche nicht als 
eine u n b i ü l i s ch e bezeichnen wollen. Jedoch läßt sich nicht 
leugnen, daß die wissenschaftliche und erbauliche Sprache der 
Lutheraner lange nicht so entschieden einen biblischen Cha 
rakter an sich trägt, wie die der Reformierten. Die beiderseitigen 
symbolischen Bücher zeigen diesen Unterschied auf auffallende Wei 
se. Ich berufe mich auch auf jede beliebige Vergleichung von 
Predigern beider Teile, wobei jedoch nur Gleichgesinnte verglichen 
werden können. Man vergleiche z. B. alle im Wuppertal und in 
der Schweiz erschienenen Predigten mit den sächsischen und baic- 
rischen; höchstens hält Württemberg eine gewisse Mitte. — Es 
gibt in unsern Tagen manche entschieden gläubige, junge Theolo 
gen, welche eine unglaubliche Unbekanntschaft mit der Bibel haben, 
welche sie noch nie ganz. ja nicht einmal das Neue Testament (ich 
erinnere nur an die Offenbarung Johannis) ganz gelesen haben 
und sogar auch nicht einmal große Lust dazu bezeugen. 
Wir nannten die lutherische Frömmigkeit in ihrer Ausa r-
	        
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