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sparten in der Natur der Dinge beruht. Das Hand
werk ist lebensfähig, darum hat die soziale Gesetz
gebung die Pflicht, für dies natürliche Glied am
Körper der wirtschaftlichen Organisation gesunde
Lebensbedingungen zu schaffen. Als ich Anfang der
90er Jahre an der Hand von 10 Jahrgängen des
Karlsruher Adreßbuchs nachwies, daß die Zahl der
Handwerker sich in der abgelaufenen Dekade nicht nur
nicht verringerte, sondern vermehrte, rieb man sich in
manchesterlichen und sozialistischen Kreisen erstaunt die
Augen. Es war ja gerade in jener Zeit die These ver
kündet worden, das Handwerk hat keine Existenzberech
tigung mehr, es ist seinem Untergang verfallen und
es wäre Pflicht, ihn zu beschleunigen. Der Industria
lismus hatte nicht nur viele Einzelexistenzen vernichtet,
er hatte als sozialpolitische Weltanschauung auch die
Gehirne verseucht, so daß selbst erdgewachsene Erschei
nungen nicht mehr erkannt wurden.
Trotzdem muß die Veränderung der sozialen
Struktur durch den Industrialismus als eine soziale
Geschichte machende Tatsache in vollem Umfange aner
kannt und bewertet werden.
Der Industrialismus —an sich unnotwendig, nicht
einmal rationell — hat das Wesen der Gesellschaft
verändert,' er hat einen neuen, zahlreich vertretenen
Stand geschaffen, den Stand des unselbständigen
Fabrikarbeiters. Der Handwerksgeselle von früher —
nicht alle, aber eine große Anzahl — konnte Meister,
konnte selbständig werden; für die Jahre lang
dauernde Abhängigkeit der Gesellenzeit tauschte er die
Meisterzeit ein! er wurde wirtschaftlich, sozial, politisch
eine Persönlichkeit in verantwortungsvollem
selbständigen Schaffen. Er erwarb das Recht auf Per
sönlichkeit, er war eine Position im staatlichen und
sozialen Gefüge, mit der gerechnet wurde. Die For
derung eines bürgerlichen und sozialen Idealismus
war erfüllt. Was der Mensch heiß ersehnt: Freiheit