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und dem Laboratorium der Pseudowissenschaftlichk.eit.
Es war auch natürlich, daß diejenigen Kreise, denen
man die Hauptschuld an Krieg und Zusammenbruch
zuschreiben mußte, sich des Antisemitismus am stärksten
als Ablenkungsmittel bedienten; die chauvinistischen
und militaristischen Kreise überschlugen sich förmlich in
antisemitischen Purzelbäumen. Eine besondere Note
erhielt der deutsche Antisemitismus durch seine rassen
mäßige Einstellung. Der Antisemitismus der 70er und
80er Jahre war hauptsächlich ein Protest christlicher
Kreise gegen Hebelgriffe sog. „jüdischer" Blätter; auch
ein Protest gegen die Arbeit des wirtschaftlichen
Manchestertums, das den modernen Kapitalismus ge
bar, der das Verschwinden zahlreicher Mittelstands
existenzen bedingte. Waren es dort die „jüdischen"
Blätter, so war es hier das „jüdische" Kapital, das
man zum Exponenten unliebsam empfundener Vor
gänge machte. Man übersah schon damals, daß das
Attribut „jüdisch" für beide Bekundungen aus dem
geistigen und wirtschaftlichen Leben keine sachliche, son-
der-n nur eine zufällige Bedeutung besaß. Nicht
weil die Presse „jüdisch" war, bekämpfte sie Kirche
und positives Christentum, es war vielmehr die
liberale Weltanschauung deutschen Be
kenntnisses, die solche Stellungnahme bedingte.
Die Schöpfer und Hauptvertreter der liberalen Welt
anschauung des Antireligiösen und Antikirchlichen
waren keine Juden, sondern Christen und Deutsche.
Zu jenen Schöpfern und Hauptvertretern gesellten sich
auch Juden. Schon hier zeigt sich die starke Un
gerechtigkeit auch in Kreisen, die die Pflicht zur Sach
lichkeit hätten. Die jüdische Bevölkerung stellt doch
ganz naturgemäß zu -allen geistigen, wirtschaftlichen,
ästhetischen, wissenschaftlichen, sozial-moralischen Be
wegungen das natürliche Kontingent ihrer
Volkszahl. Wenü heute irgendwo 100 000 Deutsche.
Franzosen, Italiener, Amerikaner beisammen sind, so