Full text: Dialogform und Argument

B. Auswahl und Rangfolge (543 c4-545c7) 
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sierung. *°5 Dabei Mefert der Blick auf die politisch-historische 
Realität einerseits Bausteine für’ die Darstellung, andererseits er- 
höht die Einbeziehung ‚realistischer Züge‘ in erheblichem Maß die 
Glaubwürdigkeit des an sich eher ungewöhnlichen gedanklichen 
Konstrukts;?%® zudem bieten sich dem Autor mit der Gelegenheit, 
bekannte Erscheinungen in einen neuen Kontext zu stellen, litera- 
rische Möglichkeiten, die Platon, wie man es immer empfunden 
hat, in meisterlicher Weise zu nutzen versteht. 
Unter dem Namen der vier politischen Ordnungen stellt Sokrates 
seinen Partnern also vier ungerechte Lebensformen vor Augen, in 
denen sich vier wichtige Alternativen zum gerechten Leben mani- 
festieren. Die Darstellung der vier. schlechten Ordnungen ist dem- 
nach nicht eine ohne Anlaß vorgenommene historische oder politi- 
sche Analyse und auch nicht der Vortrag einer platonischen Lehre 
vom Verfassungswandel, die sich vom eigentlichen Thema des Ge- 
sprächs dispensiert, sondern sie ist ein integraler Bestandteil des 
philosophischen Arguments und steht in unmittelbarem Zusammen- 
hang mit dem Anliegen des Gesprächs. Aufmerksam macht Platon 
auf diesen Zusammenhang u.a. in 557d1-d9 und gegen Ende des 
Dialogs in 618 a1-619b1. 
Daraus ergibt sich, daß die Vierzahl und die Auswahl der 
schlechten Ordnungen letztlich wohl auf eine Vierzahl und Aus- 
wahl der von Menschen erstrebten Güter zurückgehen. Aus der 
bekannten Dreizahl der seelischen (Weisheit, Tapferkeit etc.), 
körperlichen (Gesundheit, Schönheit, Kraft etc.) und äußerlichen 
Güter, die in der antiken Philosophie in der Regel an letzter, in 
der Lebenspraxis oft allerdings an erster Stelle stehen, erscheinen 
nur die letzteren. Damit greift Sokrates Glückskonzeptionen auf, 
wie sie Thrasymachos und die communis opinio vertreten.?” 
255 Vgl. Kap.IV, D und Kap. IV, G. 
256 Vgl. unten Anm.363. — Auch Aristoteles beabsichtigt an der oben 
Anm.250 zitierten Stelle in seiner ‘Rhetorik’ nicht eine Analyse der Verfassun- 
gen oder glaubt, die genannten Ordnungen durch den einen Zug hinreichend 
charakterisiert zu haben. Vielmehr zeigt der Kontext der aristotelischen Aus- 
sage, daß es darum geht, demjenigen, der überzeugen und gut raten möchte 
(1365b 21-22 mxpög TO SGvaodarı neibeıv xal xah@g ounßouleveLv), Material 
und Ansatzpunkte zu liefern. Mit anderen Worten: Hier werden nicht politi- 
sche Wesenszüge, sondern Topoi genannt. Nichts läßt darauf schließen, daß 
Platon dieser Einschätzung widersprochen hätte. 
257 Vgl. S.20-22.
	        
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