Full text: Dialogform und Argument

” 
Il. Die schlechten Ordnungen in Polis und Seele 
Ruhm und Besitz sind als Ziele des Strebens traditionell; die (‚de- 
mokratische‘) Handlungsfreiheit aber ist die logische Vorstufe zur 
schrankenlosen Triebbefriedigung des Tyrannen.?®8 
Nicht berücksichtigt ist in diesem Schema ein scheinbar beson- 
ders naheliegendes Ziel menschlichen Strebens (vgl. S05b5-d 4), 
das Streben nach Genuß (HSovfi). Dieser Punkt klärt sich in 
580c9-588a11. Jedes Streben, das sein Ziel erreicht, verschafft 
Genuß, und nicht alle Genüsse sind schlecht oder falsch. Sokrates 
unterscheidet das gerechte und das ungerechte Leben nicht da- 
nach, daß das eine sich Genuß verschaffe, das andere asketisch 
auf Genuß verzichte (vgl. vielmehr 357b4-358 a9); vielmehr be- 
reitet auch das gerechte Leben Genuß, und sogar wirklicheren und 
dauerhafteren Genuß als das ungerechte.?® Wäre es anders, so 
hätte die Protreptik zum gerechten Leben wenig Aussicht auf Er- 
folg. Das Leben, das nach Genuß strebt, ist daher keine klar ab- 
grenzbare Alternative zum gerechten Leben; um hieraus ein 
brauchbares Kriterium zu gewinnen, bedarf es einer qualitativen 
Unterscheidung der Genüsse. wie sie erst in 580c9-588a1l1l er- 
folgt. 
Ad 2: Was die Reihenfolge der schlechten Ordnungen betrifft, 
liegen die Positionen der Timokratie und der Tyrannis bereits fest. 
Die Stellung der Timokratie ergibt sich aus der Tatsache, daß sie 
für die ‚Herrschaft‘ der mittleren Seeleninstanz steht;?° die Stel- 
258 Vgl. den Schlußsatz der Rede des Thrasymachos (344c4-8 oUtwc, © 
ZOXQUATEG, XAl LOXUQÖOTEQOV XAl EAEUBERLÖTEDOV XAl SEONOTLXOTEQOV dÖöLXLOA 
ÄLxaLOOÖVNG EOtiv ixavög yıyvoukvn xtA. Einen ähnlichen Sinn hat ‚Freiheit‘ 
dei dem Sophisten Antiphon (VS 87 B 44 Col.4 t& 58 EuugEgovra TA uEV OnÖ 
COV vöwV xEeiyeva dEOUA TÄG PÜGEOG EOTL, TA 8’ ÖNO ING WÜOEWS EAEUPEOO). 
Es ist dieser pervertierte und umgedeutete Freiheitsbegriff als ‚Freiheit‘ von 
allen (gesetzlichen und normativen) Beschränkungen (vgl. Stellen wie 560e5. 
561d5-7. 563d7-e1), den Sokrates als die Vorstufe zur Tyrannis kritisiert 
(vgl. unten S.103f.). Zur Konzeption der Freiheit als Freiheit von gesetzlichen 
und moralischen Einschränkungen siehe Raaflaub [1985] 283-312. 
259 Vgl. oben Anm.44; ferner unten S.224 und S.230 f. 
20 Siehe oben S.88-90. — In diesem Sinne auch Pfannkuche [1988] 143, 
der allerdings übersieht, daß sich daraus keineswegs schon die Position aller 
Verfassungen ergibt. Die um Ansehen bemühte Lebensweise (Siaıta YıAOTLUOG) 
wird auch in Phdr.256c1 (in Anklang an die ‘Politeia’?) als zweitbeste nach 
der philosophischen eingestuft. Die Mittelstellung des zweiten ‚Seelenteils‘ 
selbst ergibt sich bei seiner Einführung aus der anvisierten Funktion, seelisches
	        
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