B. Auswahl und Rangfolge (543c4-545c 7)
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der Triebe legt also genau die Rangordnung nahe, die Platon denn
auch gewählt hat.
Ein letzter, aber keineswegs der unwichtigste Aspekt ist die
Reihung der mit den Seeleninstanzen verbundenen Lebensziele: In
unserer ‘Politeia’ folgt auf das Streben nach Ruhm und Ehre das
Streben nach Geld, das Streben nach Freiheit und schließlich das
Streben nach unumschränkter Triebbefriedigung, die unum-
schränkte Macht voraussetzt. Es liegt auf der Hand, daß die er-
sten beiden und die letzten beiden Ziele besser zusammenpassen
als etwa das erste und dritte: a) Streben nach Ansehen und Stre-
ben nach Geld sind einander ähnlich und gehen oft Hand in Hand;
im Griechischen kommt hinzu, daß tıurm ‚Ehre‘ auch den materiel-
len Wert bezeichnen kann. Wer wirklich: nach Freiheit strebt,
wird die Einschätzung durch die anderen und auch Geld weniger
schätzen dürfen. b) ‚Freiheit‘ bedeutet im Kontext der von Sokra-
tes entworfenen Demokratie die Freiheit zu tun, was beliebt
(557b4-6). Es ist klar, daß Macht, zumal unumschränkte Macht,
nichts anderes ist als die Verlängerung dieses Strebens ins Unbe-
grenzte. Wer wirklich ohne Einschränkung tun will, wozu die
Laune treibt, muß Tyrann sein wollen; genau dies war schon der
Grund für die Empfehlung der Tyrannis durch Thrasymachos.289
‘Politeia’ menschliches Streben erklärt (vgl. S.223f.); gäbe es ein Streben
(z.B. das Streben nach Freiheit) auch ohne Bindung an Triebkräfte, so müßte
die (zweifellos zweckgerichtet konstruierte) Psychologie der ‘Politeia’ revidiert
werden. — Ob auch Platon unterschreiben würde, daß Freisein von Herrschaft
besser ist als schlechte Herrschaft, wäre noch die Frage.
>80 „Thrasymachos konzipiert menschliches Glück als uneingeschränkte Auto-
nomie und Freiheit. Sein Ideal ist die Lebensweise des Tyrannen, der von allen
Menschen unabhängig ist, sich alle Wünsche erfüllen, alle Lüste ausleben
kann, ohne auf irgendjemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Die Gerechtig-
keit, der Verzicht auf eigene Vorteile zugunsten anderer hat in dieser Konzep-
tion des Glücks keinen Platz. Gerecht zu sein, ist eine Form falscher Selbst-
begrenzung, es bedeutet, Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten, über die
man an sich verfügt, künstlich zu beschneiden. Gerechtigkeit ist deshalb kein
Element des glücklichen Lebens: es ist kein &yaßöv. Sokrates hat eine andere
Konzeption des Glücks. In ihrer Konsequenz liegt es, daß sich im Gerechtsein
und im Vollzug der anderen traditionellen Aretai glückliches Leben realisiert.
Hiernach ist offenkundig, wie Sokrates und Thrasymachos ihre Meinungsver-
schiedenheit über das Gerechtsein beilegen können: die müssen die Frage be-
antworten, was in Wahrheit das Glück ist, was es in Wahrheit heißt, glücklich
zu sein. Dies ist die Königsfrage, auf die die Auseinandersetzung über das
Gerechtsein zuläuft“: Stemmer {1992a] 160.