Full text: Dialogform und Argument

II. Der Wandel der Ordnungen 
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eine zweideutige Formulierung benutzt, die man sowohl als An- 
gabe einer darstellerischen Reihenfolge als auch als Andeutung ei- 
nes Verlaufsprozesses verstehen konnte.?®5 Ausdrücklich themati- 
siert hatte Sokrates die Absicht, auch die Übergänge zwischen 
den Verfassungen ausführlich darzustellen, nirgendwo;?28% somit 
fehlt auch jede Begründung dieses Verfahrens, das erst durch So- 
krates’ tatsächliches Vorgehen ab 545c8 vollkommen deutlich 
wird. 287 
Für den Leser stellen sich somit mehrere Fragen: Weshalb gibt 
sich Platons Sokrates nicht mit der systematischen Darstellung der 
guten und der vier schlechten Ordnungen zufrieden, sondern stellt 
zwischen ihnen auch eine genetische Verbindung her, deren Dar- 
stellung erheblicher Raum gewidmet wird? Inwiefern ist der Wan- 
del der Ordnungen relevant für die Themafrage des Dialogs? — 
Welchen Status hat der Verfassungswandel für Platon? Handelt es 
sich um ein rein darstellerisches Mittel, die Systematik zu um- 
kleiden, oder sind hier Aussagen über den wirklichen Verlauf der 
Geschichte impliziert? Und gibt es, falls dies zutrifft. Indizien da- 
dadurch; daß &g Relativ-, nicht Fragepronomen ist; man kann hier also nicht 
sicher davon ausgehen, daß auch der Modus der Übergänge geschildert werden 
soll). Die Stelle dürfte ein Beispiel sein für das sokratische Verfahren, wich- 
tige Setzungen unverfänglich vorwegzunehmen (s.u. S.258 mit Anm. 728). 
?85 Die Formulierung 544c5-6 (M te tabdın Sıdpogos xai EqeENg yıyvouevn 
Snuoxpartia) kann besagen, daß die Demokratie als nächste (nach der Oligar- 
chie) entsteht (vgl. Lg.701b5) — offenbar also aus ihr —, oder einfach, daß 
nach der Darstellung der Oligarchie die Darstellung der Demokratie an die 
Reihe kommt (vgl. 451c1. 460d8. 583b1. Ti.55a2); die erste Deutung führt 
zu einem recht unmotiviert erscheinenden Hinweis, die zweite zu einer An- 
gabe, die sich passend in die Abfolge H te ... xal SEutEgA ... TETAQTOV ein- 
fügt. Die Doppeldeutigkeit scheint, wie auch in anderen Fällen, beabsichtigt 
und wäre in einer Übersetzung, die sich um eine Übertragung auch der (in 
gängigen Übersetzungen oft spurlos eliminierten) Bestandteile sokratischer Ge- 
sprächstaktik bemüht. beizubehalten (vgl. Anm. 284). 
86 Vielmehr erwecken noch die Formulierungen in 545a2-4 und 545b5-c5 
eher den Eindruck, die Verfassungen sollten einfach systematisch nacheinander 
behandelt werden, und auch Glaukon scheint die Ankündigung so verstanden zu 
haben: 545c 6-7. 
287 Für das Stillschweigen gab es einen triftigen Grund: Hätte Sokrates im 
Umfeld von 544c1-7 erklärt, er wolle auch vorführen, wie sich die dort ge- 
nannten Ordnungen auseinander entwickelten, so wäre die (implizit eingeführte 
und nicht thematisierte) Reihenfolge der Ordnungen ins Zentrum des Interesses 
gerückt. Dies wollte Sokrates zweifellos vermeiden: vgl. oben S.67-71-
	        
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