C. Die Bedeutung des Wandels
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Theorie, einer Typologie der Veränderungen oder einem ge-
schichtsphilosophischen Entwurf gesprochen. Auch der vom politi-
schen Wandel nicht zu trennenden psychologischen Seite des
Wandels wurde ein naturgesetzlicher oder typischer Verlauf, zu-
mindest aber die Intention unterstellt, reale psychologische Ent-
wicklungen zu analysieren und zu erklären. 30
Der ganzen Debatte liegen, wie leicht zu sehen, die beiden
fragwürdigen Prämissen zugrunde, die ‘Politeia’ sei erstens eine
platonische Lehrschrift und enthalte zweitens Ausführungen, die
von der Themafrage unabhängig und für ihre Beantwortung über-
fMüssig wären.®1 Was Platon dazu veranlaßt haben sollte, zu-
nächst die Bestimmung des ungerechtesten Menschen eigens als
Ziel in Erinnerung zu bringen (544a1-8. 545a2-b1l), um dann
stattdessen historische Theorien oder psychologische Entwick-
20-22 mit Anm.70; G. Müller [1981] 171f.; Elias [1984] 176. 180f.; Benar-
dete [1989] 190f.; weitere Belege z.B. bei Hellwig [1980] 1-8 und Lisi [1985]
291ff. Anm.69 sowie 297f. Eine irgendwie geartete Anlehnung an die Ge-
schichte wird oft konstatiert; präzisiert wird dies in der Regel nicht (s. Hell-
wigs Kritik ebd.). Logisch unklar bleibt vor allem, wie die Abfolge zugleich
sine Rangordnung und ein geschichtlicher Verlauf sein soll (so z.B. Romilly
[1959] 88): Richtet sich der Geschichtsverlauf nach (platonischen) Rangordnun-
gen? — Originell ist Wilamowitz’ Vermutung ([1920] I 433), Platon habe sich
wohl selbst nicht klargemacht, ob Geschichte in der von ihm beschriebenen
Weise verlaufe; falls Wilamowitz damit ausdrücken will, daß dieser Aspekt für
Platon nebensächlich war, wäre ihm zuzustimmen. — Andere Positionen ver-
treten etwa Salin [1921] 44f., der in Platons Darstellung „sicherste, wenn
auch harte Wirklichkeit“ erkennen will (unter Verweis auf die Geschichte des
19, Jhs.) und Linares [1975] 34 ff., der bei Platon einen historischen Prozeß im
Sinne der marxistischen Geschichtstheorie findet (freilich absteigend). Por-
cheddu [1984] sieht in der ‘Politeia’ Geschichte dialektisch gedeutet. Schubert
[1995] 47 implantiert, wie viele vor ihm, Platon die „Überzeugung, daß der
Verlauf geschichtlicher Stadien sich nach bestimmten Entwicklungsgesetzen
vollzieht“.
350 Vgl. Nichols [1987] 128: “As Socrates describes these four regimes and
the souls of men that correspond to them, each appears inevitably to give birth
to the regime and soul type below it on the scale. It seems to be impossible
“or men to retum to the more satisfactory order of things that their fathers
anjoyed. Nor does Socrates mention any success men have had in holding off
degeneration for any period of time. He paints a picture of human life that is
void of human control.” Trotz der Einschränkungen (‘as Socrates describes’,
appears’, ‘seems’) ist das Referat irreführend: Sokrates versucht keineswegs,
die Entwicklungen als unabänderlich hinzustellen; vgl. das Folgende.
351 Dazu die Einleitung.