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IH. Der Wandel der Ordnungen
Jungsgesetze aufzustellen,°°? ist bisher nicht erklärt worden und
könnte m.E. auch kaum plausibel erklärt werden. 9°
Unbeachtet bleibt bei solchen Ansichten ferner die Vielschichtig-
keit und Komplexität der darstellerischen Aufgabe. Wie hätte
Platon einerseits seinen Glauben an historische Verläufe zum Aus-
druck bringen, andererseits aber den Erfordernissen des Analogie-
verfahrens gerecht werden können, um nur zwei Aspekte heraus-
zugreifen? Wenn sich hier eine Überzeugung des Autors vom Ver-
lauf der Geschichte und ein Glaube an das tatsächliche Bestehen
der Analogie gepaart hätten, was der Befund jedoch ganz unwahr-
scheinlich macht,°°* dann ginge es letztlich auf einen reinen Zu-
fall zurück, daß sich aus dem seelischen Wandel die genau pas-
sende Abfolge der Triebe ergibt. Oder soll man annehmen, Pla-
ton habe aus bestimmten Vorstellungen vom Aufbau der Seele eine
Geschichtsphilosophie abgeleitet? Diese Annahme wirkt nicht nur
an sich recht merkwürdig, sondern ihr widerspricht auch, daß das
Seelenschema deutlich in Analogie zum politischen Schema gestal-
tet wird. ®% In der ‘Politeia’ sollen offenbar ein politischer und ein
psychologischer Verlauf jeweils in sich stimmig, ferner einander
parallel und drittens realistisch wirkend dargestellt werden; wei-
terhin sollen sich auch noch ganz bestimmte, zum Beweisziel füh-
rende politische und seelische Schemata ergeben; wo sich hier
noch Platz für Platon persönliche Überzeugungen vom Verlauf der
Geschichte geboten hätte, ist kaum zu sehen. Mit anderen Wor-
ten: Selbst wenn Platon feste Überzeugungen vom Verlauf der
Geschichte gehabt hätte, wofür es, soweit ich sehe, nicht den ge-
ringsten Hinweis gibt, wäre es fraglich, ob diese Überzeugungen
in unserer ‘Politeia’ überhaupt dargestellt sein könnten. Möglicher-
weise beruhen also ganze Richtungen der Platoninterpretation im
Grunde auf mangelnder Reflexion über die darstellerischen Erfor-
952 Vgl. oben S.56-58.
353 Zu Recht wendet sich auch Gigon [1972c] 77 gegen eine „im engsten
Sinn historische Erklärung des platonischen Textes“: „Zum mindesten dispen-
siert die Vermutung, Platon habe da und dort konkrete spartanische und athe-
nische Verhältnisse im Auge gehabt, nicht von der philosophischen Frage, wel-
ches systematische Gewicht jeder einzelnen Aussage zukommt.“
354 Siehe Kap. IV, D.
355 Siehe oben S.102f.
356 Siehe Kap. IV, E.