Full text: Dialogform und Argument

C. Die Bedeutung des Wandels 
13] 
dernisse eines Dialogs von der Komplexität der ‘Politeia’.®7 (Daß 
Platons Aufgabe noch schwieriger ist, als bisher angedeutet, zeige 
ich in Kap. VI.) 
Zu diesen generellen Einwänden kommen solche, die sich auf 
konkrete Textbefunde stützen können. Beachtet man neben dem 
oft angeführten Faktum, daß Platons Sokrates empirisches, d.h. 
historisches und psychologisches Material einbezieht, auch die Art 
und Weise, in der er dies tut. so stellt sich rasch heraus, daß 
diese Einbeziehung stets selektiv und stets funktional ist;®® wei- 
terhin zeigt sich, daß historische Züge sehr unterschiedlicher Pro- 
venienz zu einem suggestiven Gesamtbild vermischt werden, das 
keinesfalls historische Entwicklungen erklären, sondern allenfalls 
sokratischen Darstellungen den Anschein des Realistischen geben 
357 Eine eingehende Interpretation der ‘Politeia’, in der die Belange der The- 
mafrage, des Analogieverfahrens, der seelischen Schemata (Seeleninstanzen, 
Lebensziele und Abfolge der Triebe) und der politischen sowie psychologischen 
Stimmigkeit gleichermaßen berücksichtigt werden, scheint bis heute ein Desi- 
derat (am nächsten kommt dem vielleicht Reeve [1988], wozu oben Anm.18 
und Anm.19). In zahlreichen Arbeiten wird (oft unter dem Label ‚politische 
Philosophie“) ausschließlich die politische Abfolge behandelt, in anderen aus- 
schließlich die seelische; schließlich gibt es Arbeiten, die sich ausschließlich 
dem Analogieverfahren oder einem Einzelaspekt (z.B. der Einteilung der 
Triebe) widmen. Platon hatte jedoch alle Aspekte in glaubhafter Weise zu 
kombinieren. — Vgl. immerhin Bemerkungen wie die von Weber-Schäfer 
[1976] II 19: „Die zeitliche Abfolge der Regimeformen im Mythos vom Unter- 
gang der Polis ist kein historisches Gesetz der Gesellschaft, sondern das Spie- 
gelbild eines psychischen Prozesses der allmählichen Auflösung innerer Harmo- 
nie usw. ”; ferner die unten in Anm. 517 zitierte Aussage von H.-J. Gehrke. 
358 Für Platons Umgang mit der Geschichte gilt, wie zutreffend schon Barker 
[1918] 290 formuliert: “Plato selects only the facts that suit his argument”. 
Und weiter: “He does not seek, because it lies altogether outside his purpose, 
to give any description or classification of existing constitutions.” Daß histori- 
sche Beispiele in ‘Politeia’ VIII-IX nicht dargestellt oder analysiert, sondern 
funktional verwertet werden, hat bereits Jaeger [1936/47] III 64 formuliert: 
„Doch es kommt Plato gar nicht darauf an, der Wirklichkeit und ihren Unter- 
schieden ihr Recht genauestens zuzuwiegen. Es kommt ihm auf die Staatsform 
als solche ja überhaupt nur in zweiter Linie an, nämlich insofern er sie 
braucht, um den Krankheitstypus der Seele ... an dem von ihm erzeugten 
Staatstypus zu verdeutlichen“. Im Anschluß daran schildert Jaeger, wie die 
Zielsetzung der ‘Politeia’ auch die Darstellung und Bewertung historischer 
Sachverhalte in ihr färbt. (Ein konkretes Beispiel wäre die Art, in der Züge 
Spartas in die Beschreibung der Timokratie einfließen: siehe den Kommentar 
zu 547c 9-548 d5.)
	        
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