Full text: Dialogform und Argument

C. Die Bedeutung des Wandels 
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offensichtlich übersehen haben: Sokrates führt zwar seine Oligar- 
chie, in Anlehnung an eine gängige Formel, ein als ‚Herrschaft 
der Reichen‘ (550 c10-d2) und läßt seine Darstellung in diese For- 
mel auch wieder einmünden (551a12-b5); dazwischen jedoch 
(550d3-551a1l) wird das Thema unvermerkt gewechselt und die 
Oligarchie als ‚Herrschaft der Geldgier‘ beschrieben, was, wie 
Aristoteles richtig anmerkt, keineswegs dasselbe ist;%° an ihrer 
Geldgier — und nicht am Reichtum — geht die sokratische Olig- 
archie schließlich auch zugrunde (555b9-10).%° Die aristotelische 
Kritik macht also ganz richtig darauf aufmerksam, daß die sokra- 
tischen Ordnungen, anders als die politischen Ordnungen der Rea- 
lität, primär nicht durch die Machtverhältnisse bestimmt sind, 
sondern durch die jeweils vorherrschenden Bestrebungen und Le- 
bensziele, mit anderen Worten: daß sie nicht politisch konzipiert 
sind, sondern psychologisch. 387 
Aristoteles hat die Ungewöhnlichkeit der sokratischen Verfas- 
sungskonzeptionen hier präziser erfaßt als die Interpreten, die Pla- 
ton gegen den Vorwurf mangelnder historischer Angemessenheit zu 
verteidigen suchten und die der Kritik zugrundeliegende Mißdeu- 
tung der platonischen Intentionen damit gerade befestigten. Wenn 
spätere Interpreten versucht haben, Platon einerseits vor dem 
sachlichen Gehalt der aristotelischen Kritik in Schutz zu neh- 
men, 38 andererseits aber Aristoteles als Zeugen dafür gelten lie- 
Ben, daß Platons Verfassungswandel die aus der Geschichte be- 
kannten politischen Systeme zum Gegenstand habe, haben sie of- 
fensichtlich genau das falsche Alternativenpaar gewählt. 
385 Anstatt zu zeigen, wie die Reichen an die Macht gelangen, zeigt Sokra- 
tes in 550 d3-551a11, wie die Mächtigen geldgierig werden, 
386 Ausführlicher dazu im Kommentar zu 550 c4-551b7. 
387 Dazu umfassend in Kap. IV, G. 
388 Vgl. etwa Bornemann [1923] 111 Anm.88. „Aristoteles treibt hier ganz 
offensichtlich Spiegelfechterei: was hat es mit Platon zu tun, wenn es auch 
Oligarchien gibt, die Geldgeschäfte verbieten! In dem Staat, den Platon 
ÖAıyaoxia nennt, sind jedenfalls Wucher und Geldsucht das Charakteristische.“ 
Im Gegensatz zu Aristoteles hat Bornemann die Merkwürdigkeiten, die mit der 
sokratischen Konzeption der ‚Oligarchie‘ verbunden sind, also übersehen.
	        
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