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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele
VIII ist diese Ausdrucksweise vollkommen geläufig.*° Da die
Ähnlichkeit nicht mehr auf bestimmte Eigenschaften oder Eigen-
schaftsfelder eingegrenzt ist, kann Sokrates, dank der Möglichkei-
ten, die der Sprechmodus der Metapher birgt, eine Fülle an ‚Ge-
meinsamkeiten‘ zwischen einzelnen Polis- und Seelentypen ‚ent-
decken‘: Vor allem entsprechen der ehrgeizigen (timokratischen),
geldgierigen (oligarchischen) und freiheitsliebenden (demokrati-
schen) Polis ein ehrgeiziger, ein geldgieriger und ein freiheitlicher
Menschentypus; ferner entsprechen aber auch den ‚Drohnen‘ in der
Polis (552a7-d1) drohnenhafte Triebe in der Seele (554b7-c2),
den realen (556e 6-8) seelische Hilfstruppen (559e9-560a2) und
der Leibwache des Tyrannen (567d5-e7) eine Leibwache des
Seelentyrannen Eros (573e6-7 u.a.), wobei sich sogar zur Diffe-
renzierung in auswärtige Söldner und freigelassene Sklaven eine
seelische Entsprechung finden läßt (575a4-6). Zuweilen verbinden
sich einzelne Metaphern zu ganzen Komplexen: Die schlechten
Triebe können sich fortpflanzen (560b4-5), die Akropolis der
Seele erobern (560b 7-10), die Tore schließen und Gesandten den
Einlaß verweigern (560c6-d1), ferner die schon von Thukydides
beschriebene Umwertung der Wertbegriffe vornehmen und ihre
Gegner verbannen (560d2-561a1).%% Keine seelische Entspre-
chung haben andererseits etwa der Besitz von Haus und Schatz-
kammer (547b8-c1. 548a7-8), die gemeinsamen Mahlzeiten
(547d6), die Kriegslisten (548a1l), die zänkische Mutter
{549c8-e1l) oder der Weg vom Demagogen zum Tyrannen
(565d1-566d4; 572e5-573b5 ist nicht analog).
Durch die Ausweitung hat Sokrates sich die Möglichkeit ge-
schaffen, das Analogieverfahren auf recht unterschiedliche Eigen-
schaften von Polis und Seele anzuwenden. Genutzt wird diese
Möglichkeit, wie schon die genannten Beispiele belegen, selektiv.
Wo sie genutzt wird, mag sie in bestimmten Fällen nur der Farb-
435 Vgl. 543d1 &vSoa töv Exeivn (sc. tf möheı) EwoLov. 544a5 duolous. e7
öWoLov. 545a3 xatd tv Aaxwvixhv Eot@ta nolıteiav. b7-c1 tOv TOLOUTOV
ävöpa. 548d6 ö xatü TAa0INV INV noALTELAV dvHO. S49b 10 TM ToLAUTN NÖAEL
E0Lx@®c. 553a3 töv SE taüın SyoLov. 553e1-3 (6Aıyapyıx6ösc = tf ÖALyapXia
öyoL0c). 554a3. b1. 577d1-2. 580d3-4 u.a. — Anders liegt der Fall in
472b3-d3. An dieser Stelle geht es nicht um die Analogie zwischen Polis und
Seele, sondern um die Frage, ob die Modellvorstellung von der Gerechtigkeit
sich in der realen Welt perfekt oder nur näherungsweise realisieren läßt.
436 Thukydides III 82,4: dazu Stemmer [1992 a] 7f.