Full text: Dialogform und Argument

D. Die Grenzen der Analogie 
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und Seeleninstanzen hat in der Polis also keine wirkliche Entspre- 
chung. 
Stilisiert werden muß die postulierte Ähnlichkeit zwischen Polis 
und Mensch bei der tyrannischen Ordnung: Der tyrannische 
Mensch, dessen extreme Ausprägung der Tyrann ist, wird, wie 
sich bereits in 545c 3-4 andeutet, nicht einfach mit der tyranni- 
schen, sondern mit der tyrannisch regierten Polis verglichen, d.h 
mit der Gruppe der Bürger, die vom Tyrannen unterdrückt werden 
(577c8-d6). So ergibt sich scheinbar einleuchtend das Unglück 
der tyrannischen Seele, und der Tyrann selbst, der im Alltagsver- 
ständnis der Prototyp des uneingeschränkten Herrschers ist, kann 
in paradoxer Weise zum Sklaven (seiner Triebe) stilisiert werden 
(574d1-575a8. 577c1-578b6 u.a.). Bei den anderen Ordnungen 
wurde die beim tyrannischen Menschen zu diesem Zweck eigens 
hervorgehobene methodische Forderung, der Mensch dürfe nicht 
nur mit dem kleinen herrschenden Kreis, sondern müsse mit der 
Polis im ganzen, also der Mehrheit in der Polis verglichen werden 
(577c5-d6), mit, um das mindeste zu sagen, recht unterschiedli- 
cher Konsequenz gehandhabt;*® offenbar ist die Forderung für den 
einen Fall zweckgerichtet improvisiert.%° 
Die Stilisierung zeigt, daß das Analogieverfahren im Dienste des 
Beweisziels steht. Und dasselbe zeigen die Aussparungen, die ge- 
nau dort vorgenommen werden, wo sich die Analogie selbst durch 
suggestive Formulierungen und raffinierten Einsatz von Metaphorik 
nicht oder doch nicht bruchlos herstellen läßt: Menschen, jedoch 
nicht seelische Instanzen, werden durch Erziehung und Beeinflus- 
sung in ihrem Typus geprägt; die künftigen Philosophen durchlau- 
dieses Schicksal tragen nicht die Götter, sondem trägt der Mensch selbst die 
Verantwortung. Im Schlußmythos wird dafür die Formulierung gefunden: aitia 
£Aouevov: BeÖc dvalitıog (617 e 4-5). 
449 Die zahlenmäßige Mehrheit findet sich in der timokratischen Ordnung si- 
cherlich auf der Seite der zu Periöken herabgedrückten ehemaligen Bauern und 
Handwerker (547 c 1-4), die in der Beschreibung des timokratischen Menschen 
(548 d6-550c 3) jedoch kein Analogon erhalten. In der Oligarchie findet sie 
sich bei den Armen (552d8-10), aber nur Bettler und Verbrecher (552 c 6-e 4) 
erhalten (verbale) Analoga in Form bettlerischer und verbrecherischer Triebe 
(554 b8-c 1). Die drei Gruppen der Demokratie — die Demagogen, die Reichen 
und das arbeitende Volk (564c 9-565d3) — haben keine seelischen Analoga. 
Vgl. ferner Anm. 493. 
450 Zum Phänomen der zweckgerichteten Improvisation s.u. S.251-288.
	        
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