E. Die Herstellung der Analogie
165
lassen sich leicht finden.®3 Diese Grenzen betreffen also keines-
wegs nur Details und unwesentliche Punkte, sondern sie betreffen
auch ganz und gar zentrale Aspekte. *%*
Die oben getroffene Aussage, daß die Analogie selektiv genutzt
wird, läßt sich also dahingehend präzisieren, daß die Vorzüge und
gestalterischen Möglichkeiten der Analogie mit außerordentlichem
Geschick eingesetzt, die Klippen und Grenzen der Analogie jedoch
in weitem Bogen umschifft werden. Diese zielgerichtete Gestal-
tung deutet nicht darauf, daß Platon selbst ernsthaft an einen
analogen Aufbau von Polis und Seele geglaubt hat, sondern sie
deutet auf bewußten Einsatz einer literarischen Technik, einer
Technik, deren Anwendungspotential in der Hand des souveränen
Literaten und phantasievollen Schriftstellers immens ist. Der Le-
ser der ‘Politeia’ kann sich davon an vielen Stellen überzeugen.
E. Die Herstellung der Analogie
Um diese literarische Technik noch genauer zu beleuchten, bietet
sich die Frage an, wie der Schriftsteller die Analogie zwischen
Polis und Seele herstellt: Werden Züge der Polis auf die Seele,
oder Züge der Seele auf die Polis übertragen? Der Sachverhalt
ist, wie sich in den folgenden drei Abschnitten zeigen wird, kom-
plex: Die grundlegende Struktur von Polis und Seele hat Sokrates
offensichtlich von der Polis abgeleitet (E); damit ergibt sich eine
453 Einige davon nennt Williams [1973], der in seinem lesenswerten Aufsatz
nicht nur grundlegende Inkonsistenzen in der Analogie nachweist, sondern auch
aussagekräftige Indikatoren dafür benennt, daß Platon sich dieser Inkonsisten-
zen bewußt gewesen sein muß; vgl. ferner Murphy [1951] 69f. (mit anderer
Aussageabsicht), Moline [1978] und schon Kirchmann 207f. (in: Schleierma-
cher [1870]); weiterhin siehe oben S.117f. und unten S.181. — Unbeabsich-
tigte Beispiele für die Grenzen der Analogie liefern gelegentlich auch die In-
terpreten, die eigentlich ihre Gültigkeit zeigen wollen. So schreibt etwa Wil-
son [1983] 35: “The productive or business class ... in the polis is necessary
to secure its material existence. Similarly, the material existence of a person
depends on the satisfaction of bodily appetite”. Daß (und weshalb) der dritte
Stand und das &mx9vuntLx6v sich nicht entsprechen. zeigt hingegen ganz richtig
Williams [1973] 203 f.
454 Um die Grenzen der Analogie zu übersehen, muß man schon, wie Sokra-
tes selbst es tut, kritische Punkte gezielt ausblenden (anders Reeve [1988]
252).