Full text: Dialogform und Argument

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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele 
‚politische‘ Konzeption der ‚seelischen Ordnung‘ (F); zugleich sind 
freilich, damit die Ableitung überhaupt möglich wird, die ‚politi- 
schen‘ Ordnungen von vornherein in einer ganz bestimmten (und 
originellen) Weise konzipiert (G). 
Die Frage, ob in der ‘Politeia’ die Priorität bei der Polis oder bei 
der Seele liegt, ist oft behandelt worden; versäumt hat man es 
dabei, präzise zwischen der genetischen und der argumentativen 
Priorität zu unterscheiden,*° also zwischen der Frage, ob solche 
Züge, die sich bei Polis und Seele finden, ursprünglich aus dem 
politischen oder aus dem seelischen Bereich stammen, und der da- 
von zunächst unabhängigen Frage, welcher der beiden Bereiche 
durch das Analogieverfahren letztlich erhellt werden soll. *% 
Die Frage nach der argumentativen Priorität läßt sich beantwor- 
ten mit Blick auf die Themafrage des Dialogs, auf die program- 
matischen Aussagen der Dialogfiguren und auf das tatsächliche 
Vorgehen in der ‘Politeia’. Alle drei Prüfungen führen zum selben 
Ergebnis: Das Analogieverfahren dient nicht der Ermittlung politi- 
scher, sondern der Ermittlung seelischer Zustände; die argumen- 
tative Priorität liegt eindeutig bei der Seele.®7 — Die politischen 
455 Vgl. etwa Barker [1906] 103, wogegen Cornford [1912] 263; ferner Bar- 
ker [1918] 188f. 286 Anm.1; G. Müller [1951] 13 Anm.3; Krämer [1959] 97 
mit Anm. 130; Taylor [1960] 295f.; Welskopf [1964] 304 f.; Tigerstedt [1965] I 
263; Cross/Woozley [1966] 131f.; Mulgan [1968], dagegen Hall [1972 al und 
Hall [1974]; Maurer [1970] 81f. mit Anm. 32 (mit Nennung weiterer Arbeiten); 
Irwin [1977]; Annas [1981] 146f.; Porcheddu [1984] 18ff.; Moors [1989 a]. 
Eine ausdrückliche Unterscheidung von genetischer und argumentativer Priorität 
finde ich nirgendwo; wie die verwendeten Argumente zeigen (instruktiv sind 
Arbeiten mit Entgegnung), werden die beiden zu trennenden Fragen oft ver- 
mischt, 
156 Um Mißverständnisse möglichst zu vermeiden: Die Frage nach der argu- 
mentativen Priorität ist nicht die Frage, ob das Thema der ‘Politeia’ die Polis 
oder die Seele ist. Selbstverständlich sind die gerechte Polis und die gerechte 
Seele Thema der ‘Politeia’. Die Frage ist, ob damit zwei Themen vorliegen, 
die in Platons Argument denselben funktionalen Stellenwert einnehmen, oder 
ob das eine Thema um des anderen willen behandelt wird. Klärend hierzu 
schon Proklos (in R. I, ed. Kroll, p.7,5-14,14); ferner K. Hermann [1849] 
132-159, der allerdings mit seiner Ansicht, Platon habe Individuum und Polis 
nur quantitativ unterschieden (135), dem Autor des Dialogs Naivität unterstellt. 
457 Zur Themafrage siehe Kap.l. — An programmatischen Aussagen nenne 
ich hier nur (zur guten Polis) 368 e 2-369 a4 sowie (zu den schlechten Poleis) 
543c4-545c7 (insbesondere: 544a2-8. 545a2-b1. b3-c5), wozu oben 
5.28-31. — Eine Behandlung der vor diesem Hintergrund am ehesten er-
	        
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