E. Die Herstellung der Analogie
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Darstellungen sind somit funktional eingebunden. Ob sie sich aus
diesem funktionalen Zusammenhang gelegentlich lösen und sich
verselbständigen, wie man zuweilen gemeint hat, ist eine andere
Frage, für deren Beantwortung eine zuverlässige Basis m.E. bis-
her fehlt.*8 — Sicher feststellen läßt sich hingegen, daß nir-
gendwo im Dialog in erkennbarer Weise das Ziel verfolgt wird,
durch einen Vergleich der Gerechtigkeit in Polis und Seele die
[dee der Gerechtigkeit ausfindig zu machen: Die Ermittlung der
gerechten Polisordnung dient der Ermittlung der gerechten Seelen-
ordnung, diese wiederum dem Glücksvergleich; nirgendwo werden
die gerechte Polisordnung und die gerechte Seelenordnung mitfein-
ander verglichen, um aus den gemeinsamen Zügen die Idee der
Gerechtigkeit zu ermitteln. **
klärungsbedürftigen Aspekte des tatsächlichen Vorgehens findet sich oben in
den Kapiteln II und HI.
458 7u beantworten ist diese Frage natürlich nicht durch Hinweise auf die
Länge oder das subjektiv empfundene ‚Gewicht‘ der politischen Abschnitte,
sondern nur durch konsequente Prüfung ihrer Funktionen (und den Aufweis
fehlender Funktion) im Argument der ‘Politeia’. Die Funktion der politischen
Abschnitte im sokratischen Argument aber ist, soweit ich sehe, bisher selten
überhaupt beachtet und noch niemals konsequent geprüft worden. — Ferner
wäre von der Konzeption von Aussagen auszugehen, nicht von ihrer Begriff-
lichkeit; nicht alle Aussagen, die mit politischem Vokabular operieren,
bezeichnen in der ‘Politeia’ auch politische Sachverhalte im üblichen Sinn des
Worts (s.u. Abschnitt G). Auch dies hat man bisher zuwenig beachtet.
459 Die damit abgewiesene Annahme wird in neuerer Zeit v.a. von Hellwig
[1980] vertreten (z.B. 57); sie hat jedoch a) weder einen Beleg im Text noch
b) Platz im Argument des Dialogs. — Ad a: Formulierungen wie ‚die Gerech-
tigkeit selbst‘ kommen zwar in der Politeia’ vor, und natürlich können solche
Formulierungen die Idee der Gerechtigkeit bezeichnen (517e 1-2); gemeint ist
aber, wie der Kontext der fraglichen Stellen zeigt (z.B. 612b2-3. c10), et-
was anderes: Gesucht wird dort nicht die Idee der Gerechtigkeit in Abgrenzung
von bloßen Erscheinungsformen, sondern gesucht wird die (Wirkung der) Ge-
rechtigkeit selbst in Abgrenzung von (der Wirkung der) mit ihr nur verbundenen
Konsequenzen (guter Ruf, Lohn für Gerechtsein etc.); damit sind exakt die
Forderungen aufgenommen, die vor allem Adeimantos aufgestellt hatte
(363a1-2. 367b2-5. d2-5. e1-5 u.a.). Hellwig hat den argumentativen
Kontext der von ihr genannten Stellen nicht beachtet und daher auch ihren Sinn
mißdeutet. — Ad b: Um die Themafrage zu beantworten, ob es gut ist für den
Gerechten, gerecht zu sein, muß nicht die Idee der Gerechtigkeit gesucht,
sondern die Wirkung der Gerechtigkeit in der menschlichen Seele untersucht
werden; wenn die Frage zur Debatte steht, ob das Gerechtsein den Menschen
glücklich macht, müssen Gerechtsein und die gerechte Seele bestimmt werden