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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele
Wenn die argumentative Priorität bei der Seele liegt, so ist an-
zunehmen, daß die genetische Priorität mindestens in einigen
wichtigen Punkten bei der Polis liegt. Wäre es anders, so hätte
sich Platon den Umweg über die Polis und das Analogieverfahren
im Grunde sparen können. Die Vermutung wird durch den Befund
bestätigt:
Daß Platon wichtige Züge des in der ‘Politeia’ geltenden Seelen-
modells aus dem politischen Modell abgeleitet hat, läßt sich ganz
allgemein schon durch Blick auf die unterschiedliche Natur der
beiden Objekte wahrscheinlich machen, deren Modell hier entwor-
fen wird. Die Polis ist ein sichtbares Objekt, und ihre fundamen-
talen Gegebenheiten liegen jedermann vor Augen. In jeder funkti-
onsfähigen Polis gibt es Menschen und Gruppen mit unterschiedli-
chen Funktionen und Leistungen, unterschiedlichen Positionen in
der politischen und gesellschaftlichen Hierarchie und unterschiedli-
chen Interessen; in jeder Polis gibt es Gegensatz oder Gleichklang
von Interessen, Herrschende und Beherrschte, Phänomene wie Ei-
nigkeit, Konflikt und Macht. Wer ein politisches Modell entwirft,
muß sich im Rahmen solcher Gegebenheiten bewegen. — Die
Seele ist ein unsichtbares Objekt, dessen genaue Natur sich
schwer ermitteln läßt; verschiedene Mutmaßungen sind möglich
und können auf rein empirischem Wege weder nachgewiesen noch
widerlegt werden.%°% Der Gestaltungsspielraum, der dem Schrift-
(vgl. auch Reeve [1988] 248). Diese Bestimmung könnte vielleicht auch im
Rückgriff auf die Idee der Gerechtigkeit erfolgen; sie erfolgt in der ‘Politeia’
jedoch auf andere Weise (432b2-442a10). Ganz funktionslos wäre jedenfalls
eine nachträgliche Bestimmung der Idee der Gerechtigkeit, nachdem die ge-
rechte Seelenordnung bereits gefunden ist. — Hellwig [1980] 57 verweist zur
Stützung ihrer Ansicht auf 434d2-435a3, verfehlt jedoch, weil sie die Funk-
tion dieser Stelle nicht beachtet, auch den exakten Sinn der Formulierungen
(vgl. oben Abschnitt B). Unzutreffend ist ferner Hellwigs Behauptung, die
Ausdrücke t& ara und ökoLwöTNS in 368 d7 und 369a2 zeigten, daß es primär
nicht auf die Gerechtigkeit in der Seele, sondern auf das in Polis und Seele
Gleiche ankomme: Der Nachweis des Gleichen dient an der genannten Stelle
vielmehr dem Nachweis, daß das gewonnene Ergebnis als korrekt gelten darf,
1460 Wenn Aristoteles in Pol.1260 a 4-5 aus den angenommenen Bedingungen
in der Seele auf andere Sachverhalte schließt (xai tToUtO EUBUSs üynNyNTAL <TAD
xeol thv wuxXHV), heißt dies nicht, in der Seele seien „diese Bedingungen evi-
dent“, wie Schütrumpf [1991a] 374 etwas irreführend formuliert (korrekter:
Schütrumpf [1980 a] 7); vielmehr setzt Aristoteles an dieser Stelle eine ganz
bestimmte Vorstellung von der Seele voraus (vgl. 1254b 4-9 u.a.). Die Rede-
weise, das Seelenmodell der ‘Politeia’ sei nicht an der Polis orientiert, sondern