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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele
Seele nicht so konzipieren, daß Interessenkonflikte in sie hinein
verlagert werden, *°3 aber diese Konzeption ist sicherlich nicht erst
für die ‘Politeia’ geschaffen.
Anders steht es wohl, wie man längst vermutet hat, um die
Dreizahl der Seeleninstanzen in Buch IV. Traditionell war, wie
bereits angedeutet, die Vorstellung, daß es im Menschen einen
vernünftigen und einen unvernünftigen Antrieb gibt, die in Konflikt
geraten können.‘ Glaubwürdige Belege für eine vorplatonische
Dreizahl von Seeleninstanzen lassen sich hingegen nicht beibrin-
gen.%®5 Aus Annahmen über die physiologische Natur der Seele
wie auch in späteren Texten, das Vokabular von Bezähmung, Kampf und Sieg;
die Vernunft soll stärker sein als der Affekt (Theognis 631 0uvuWoÜ %g£00wV
vö0g), der sich aber nicht immer leicht bezähmen lasse (Heraklit VS 22 B85;
Demokrit VS 68 B236 u.a.); am Ausgang des fünften Jahrhunderts spricht man
häufig vom Bezähmen der Lüste u.ä. (xpeloowv HdovOv u.ä.), wozu Classen
"1959] 19f. und 112f. Berühmt ist der in seiner Echtheit umstrittene und
schwierig zu deutende Vers Euripides, ‘Medea’, 1079 Buuös S& xgeiOOwWV TÖV
Eu@v Bovuleuudtwv, wozu etwa Heitsch [1989a] 16-22 und Schmitt [1994 c]).
Die Deutung seelischen Konflikts als ‚Kampf‘ unterschiedlicher Triebkräfte in
der Seele ist also traditionell (umfassender z.B. Cummins [1989]).
163 Eine andere Deutung wird im platonischen ‘Phaidon’ favorisiert, wo der
{nteressenkonflikt zwischen Körper und Seele angesiedelt wird (66 c 5-7), übri-
gens ganz deutlich im Sinne des dortigen Arguments: Sokrates möchte zeigen,
daß der Tod als ‚Befreiung‘ der Seele vom Körper und seinen hinderlichen
Trieben von Vorteil ist; dies wäre schwieriger, wenn die Triebe in der Seele
selbst lokalisiert wären. Es ist die Frage, ob die (natürlich längst bemerkte)
Diskrepanz zwischen ‘“haidon’ und “Politeia’ tatsächlich auf eine philosophi-
sche Entwicklung Platons zurückgeht — Stellen wie ‘Politeia’ 442a7-8.
584c 4-5 wirken wie eine unausdrückliche Korrektur dieser Ansicht — oder
vielmehr auf Piatons Geschick, seine Konzeptionen in der jeweils geeignetsten
Weise auf den argumentativen Kontext abzustimmen (vgl. unten Anm. 791). —
Die traditionelle Deutung des Todes als Trennung der Seele vom Körper, die
Sokrates angesichts der Verkündung seines Todesurteils als Möglichkeit
(Ap.40c 5-9) und in der Todeszelle als verbreitete Ansicht (Phd.64c 2-9.
57d 4-6) erwähnt, läßt Platon ihn im ‘Gorgias’, damit vom Jenseitsgericht ge-
sprochen werden kann, als Überzeugung bekennen (Grg.524 b 2-c 1).
164 Vgl. Anm.462. Noch Aristoteles bezieht sich ganz selbstverständlich auf
diese populäre Vorstellung: Pol.1254a5-6. 1277a6-7. EN 1102a27-28. de
An.432a26 u.a. — Vgl. etwa Comford [1912] 263; Dodds [1959] 300.
165 Die Zahl der psychischen Entitäten, die in den frühgriechischen Texten
genannt werden, ist weit größer als drei (z.B. OuuöG, WONIV/QOEVEG, MEVOG,
vö0oc, Atog, xHo, Koanideg u.a.), und ihre ‚Funktionen‘ überlappen sich zum
Teil (s. S.217-220). — Manche Interpreten (z.B. Joseph [1935a] 42f.; Joly
[1956] 77ff.) sind der Ansicht, die Dreiteilung der Seele sei schon pythago-