G. Die Konzeption der politischen Ordnung
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Schon das bisher Gesagte deutet an, wie weit Platon davon ent-
fernt ist, mit seinen Darstellungen die realen politischen Gegeben-
heiten seiner Zeit beschreiben oder analysieren zu wollen. Daß
dies nicht immer klar gesehen worden ist und in seiner vollen
Tragweite für die Einschätzung des sokratischen ‚Verfassungswan-
dels‘ bis heute nicht angemessen berücksichtigt scheint, hat Si-
cherlich mit dem Verfahren zu tun, die Politeia’ als ‚Staatsschrift‘
und das sokratische Argument als Sammlung platonischer Überzeu-
gungen zu lesen;°18 hinzu kommen im vorliegenden Fall aber min-
destens zwei weitere Quellen für Mißverständnisse:
]) Die von Sokrates benutzten Verfassungstermini sind späteren
Lesern nur in verengter Bedeutung vertraut. Für Platon und seine
Zeitgenossen, deren gedankliche Bezugsgröße nicht der Staat, son-
dern die Polis war, bezeichnen Termini wie ‚Demokratie‘ und
‚Oligarchie‘ nicht nur Staatsformen, sondern Organisationsformen
der Polis, die gesellschaftliche Sachverhalte einbeziehen und über
den bloß staatsrechtlichen Aufbau der Polis in vieler Hinsicht hin-
ausgehen. Es sind nun gerade die im heutigen Sinne nichtpoliti-
schen Konnotationen der griechischen Verfassungstermini, die in
Sokrates’ Darstellung die entscheidende Rolle spielen.
2) Sokrates verwendet aber nicht nur die dem späteren Leser
scheinbar vertraute, gerade deswegen aber für ihn mißverständli-
che Begrifflichkeit, sondern er verändert auch noch die hinter den
Begriffen stehenden Konzeptionen, was ein ‚intuitives Verständnis‘
der sokratischen Aussagen ohne vorausgegangene Begriffsklärung
vollends unmöglich macht. Dabei knüpft Sokrates an geläufige
Verwendungsweisen der fraglichen Termini zunächst an und ver-
schiebt dann unmerklich die Gewichte. Dieses Vorgehen, das nicht
nur allgemein für den Sokrates der platonischen Dialoge ty-
pisch,1? sondern hier auch Voraussetzung für die Anwendbarkeit
noch in neueren Arbeiten zu ‚Platons politischer Philosophie‘ oft gänzlich aus-
geblendet.
518 Dazu oben die Einleitung.
519 Die Umdeutung geläufiger Termini ist ein für Platons Sokrates geradezu
charakteristisches Verfahren; ein typisches Beispiel bei Heitsch [1993a] 171
(zu Phdr.270 c 9-d 8): „Und damit hat Sokrates das Thema in Wahrheit geän-
dert: Wie so oft, hält er sich auch hier an das einmal eingeführte Stichwort,
verschiebt aber, ohne daß der Partner das bemerkt, die Bedeutung“. Weitere
Beispiele bei Classen [1959]; Heitsch [1963]; unten Anm.648; vgl. auch