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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele
des Analogieverfahrens ist (s.o.), ist nicht ganz leicht zu durch-
schauen; auch für denjenigen, der auf die semantischen Verschie-
bungen achtet, gewinnt die neuartige Konzeption der ‚Verfassun-
gen‘ in der ‘Politeia’ erst nach und nach Kontur. Das Faktum, daß
Umdeutung stattfindet, hat Platon dem Leser freilich mindestens
in einem Fall durch eine unmißverständliche Nachfrage des Part-
ners anzeigt.°® — Beide Punkte bedürfen näherer Ausführung:
Ad 1: Begriffe wie ‚Polis‘ (m6A\ıc) und ‚Politeia‘ (molıtsia), die
heute im allgemeinen mit ‚Staat‘ und ‚Verfassung‘ wiedergegeben
werden, assoziierten für Platons Zeitgenossen umfassendere Sach-
verhalte, in denen ‚das Politische‘ im modernen Wortsinn nur eine
Teilmenge bildete: 521
Für Platons Zeitgenossen vereint der vielschichtige Begriff ‚Po-
lis’ (mxöAıc) in sich die Konnotationen von Stadt und Gemeinde,
S.258. — In der Politeia’ werden unmerkliche semantische Verschiebungen
einmal (in Form eines Vorwurfs an Sokrates) thematisiert (487 b 1-c 4).
520 In 550a10 fragt Adeimantos, was Sokrates unter einer Oligarchie ver-
stehe; dies ist klarerweise keine Frage näch der Bedeutung eines (längst ge-
läufigen) Terminus, sondern die Frage nach einer neuartigen Verwendungsweise
des Begriffs.
521 Hier braucht keine neue Definition des Politischen versucht zu werden;
zur historischen Bandbreite des in der Neuzeit auf den Staat und Machtphäno-
mene konzentrierten Begriffs siehe C.Meier/P.-L. Weinacht/E. Vollrath,
Hist. WB.Philos., Art. ‚Politik‘ (vgl. auch Bien [1990] 55 sowie die unten ge-
nannten Arbeiten). Wenig sinnvoll erscheint es jedenfalls, den (heutigen) Be-
griff des ‚Politischen‘ so weit zu fassen, daß er alles einbeziehen würde, was
die Polis (und damit auch: die Bürger der Polis) angeht, wie es allerdings ge-
legentlich geschieht; ein solch weiter Begriff würde die Gesamtheit der kultu-
rellen Phänomene umfassen und damit jede spezifische Bedeutung einbüßen (in
konkreten Fällen freilich ist ‚das Politische‘ von anderen Größen — das Reli-
giöse, das Soziale etc. — nur sehr schwer abzugrenzen, wie etwa die Diskus-
sionsbeiträge in *Anfänge politischen Denkens [1993] 346. 383-386. 436-439
zeigen). — Eine andere Frage wäre, wie und wie weit Platon selbst den Be-
griff des ‚Politischen‘ faßt — möglicherweise unterscheidet Platon eine de-
skriptive von einer normativen Bedeutung (was Politik ist, und was sie sein
sollte) —, und ob sein Sprachgebrauch sich dabei vom Sprachgebrauch seiner
Zeitgenossen signifikant unterscheidet (einige Bemerkungen dazu enthält das
Folgende). Auch und gerade wenn sich zeigen ließe, daß der platonische Be-
griff von ‚Politik‘ anders konzipiert ist als der moderne, wird man sich fragen
dürfen, ob das der ‘Politeia’ oft ohne nähere Erläuterung angeheftete Etikett
‚politische Philosophie‘ für den heutigen Leser erhellend ist und ihn das tat-
sächliche Anliegen des Dialogs erkennen läßt (vgl. Kap.l) — oder ob es ihn
eher irreführt.