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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele
ist eine (eher ungebräuchliche) Bezeichnung für recht unterschied-
liche Gebilde. Es bleibt offenbar nur die Beibehaltung des Ter-
minus ‚Polis‘; auch dagegen sind freilich Einwände denkbar.“7 —
Daß die von Sokrates in ihrem Wandel beschriebene Polis kein
Staat ist, zeigt sich schon im Äußerlichen, etwa in der begrenzten
Größe der Polis, die Garant der Einheit sein soll (423 b 4-c 5).°28
Hinzu kommt der (von der Größe abhängige) Aspekt der Kommu-
nikationsform: Unmittelbarer Kontakt zwischen den Bürgern (und
zwischen Herrschenden und Beherrschten) ist in den sokratischen
Schilderungen — etwa bei der Beeinflussung der Lebensziele —
immer vorausgesetzt. Vor allem aber blendet der Begriff ‚Staat‘
mit dem personalen den in der ‘Politeia’ zweifellos wichtigsten
trumpf [1991b] 386 angeführten aristotelischen Parallelen. — Dazu auch E.
Vollrath, Hist. WB. Philos., Art. ‚Politisch, das Politische‘ (Polis ist „die poli-
tisch qualifizierte Bürgerschaftsgemeinde, niemals ‘Staat’“); Sartori [1992]
274f. (die griechische Polis war „in keinem Sinne ein Staat. Die polis war
eine Stadtgemeinschaft, eine koinonia“); ferner Ch. Meier, ebd., Art. ‚Politik‘
(bes. Sp.1038-1040); Demandt [1993] 9-12.
526 Die antiken und die späteren Stadtstaaten sind nur mit deutlichen Ein-
schränkungen vergleichbar: Meyer [1968] 66; Molho, A./Raaflaub, K./Emlen,
J. [Hg.], City-States in Classical antiquity and Medieval Italy, Ann Arbor
1991.
527 Gegen die seines Erachtens mit vorgeprägten Vorstellungen belastete
Verwendung des unter Historikem eingebürgerten Terminus ‚Polis‘ wendet sich
Gawantka [1985]. Zu dieser Kritik vgl. K.-J. Hölkeskamp, AAHG 42, 1989,
197-203.
528 Sobald die politische Konstruktion nicht mehr eine Stadt, sondern meh-
rere Städte umfaßt, sind Partikularinteressen unvermeidbar: Die Belange der
eigenen Gemeinde werden wichtiger als die Belange anderer Gemeinden,
Schon deswegen wäre die gute Polis als Flächenstaat selbst in der Theorie un-
denkbar.
529 Die gute Polis der ‘Politeia’, aus der in der Erzählung die schlechteren
hervorgehen, ist eine politisch autonome Kleinstadt mit einer begrenzten Zahl
von Einwohnern, die (im Unterschied zur Polis Athen) weder über externe Ter-
ritorien noch über außenpolitische Beziehungen verfügt. Vorauszusetzen ist die
Kommunikationssituation einer Gemeinde, die im Regelfall „mit ihrer Bevölke-
rungszahl kaum das Niveau eines heutigen Dorfes oder einer Kleinstadt“ über-
schritten hat (Gehrke [1985a] 347). Externe wirtschaftliche Beziehungen sind
in 370e5-371b3 angedeutet; sie spielen im Ganzen des Dialogs aber kaum
eine Rolle. Für kriegerische Kontakte ist die gute Polis gerüstet (373 d4-e 8.
422a4-423b3. 468 a1-471c3). Zwei ihrer Nachfolgerinnen, die timokratische
und die tyrannische Polis, treten auch als Aggressoren auf (548a2.
5662e6-567a9).