Full text: Dialogform und Argument

G. Die Konzeption der politischen Ordnung 
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Aspekt der Polis aus; die geläufige Verwendung des irreführen- 
den Begriffs hat sicherlich dazu beigetragen, unter Interpreten und 
Lesern der ‘Politeia’ unzutreffende Vorstellungen über Thema und 
Intention des Gesprächs zu befestigen. 
Auch im Titel des Dialogs findet der heutige Leser, infolge ei- 
ner Tradition, die zumindest bis auf Ciceros ‘De re publica’ zu- 
rückreicht,°% den Terminus ‚Staat‘ (Republic, Republique etc.). 
Wiedergegeben ist damit der Begriff molıtele« (‚politeia‘),°? der 
im Text selbst üblicherweise als ‚Verfassung‘ übersetzt wird.°° 
Auch diese Übersetzung bedarf aber der Erläuterung: Eine Verfas- 
sung im Sinne einer den Gesetzgeber bindenden politischen Grund- 
530 Gegeneinandergestellt werden in der “‘Politeia’ primär offenbar nicht 
staatliche Organisationsformen, sondern unterschiedliche Lebensweisen und ihr 
unterschiedliches Glückspotential (vgl. S.91-98). Die gerechte Polis ist kein 
Rechtsstaat; ihre Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit des Systems und be- 
steht nicht in gerechten Gesetzen, verbrieften Rechten (wie den Menschen- 
rechten) und ähnlichen Dingen, sondern sie besteht im (auf der richtigen See- 
lenordnung basierenden) richtigen (gerechten) Handeln aller Bürger, vom Re- 
genten bis zum Arbeiter (vgl. G. Vlastos, *Plato II [1972] 79f.). Die Gerech- 
tigkeit der guten Polis ist eine Eigenschaft von Menschen und keine staats- 
rechtlich faßbare Größe. — In ähnlicher Weise betrifft die Identität von Polis 
und Bürgerschaft andere Eigenschaften: Die Einheit der guten Polis besteht in 
der Einmütigkeit ihrer Bürger, ihr Glück ist identisch mit dem Glück ihrer Bür- 
ger (vgl. Anm. 446). Im übrigen ähnelt auch das Analogon zur Polis, die Seele, 
nicht einer politischen Struktur oder Organisationsform, sondern einer hierar- 
chisch gegliederten Gruppe von Personen mit unterschiedlichen Funktionen und 
unterschiedlichen Interessen. Das Verhältnis zwischen Seeleninstanz und Seele 
entspricht nicht dem zwischen Staatsbürger und Staat, sondern dem zwischen 
dem Einzelnen und der Gemeinschaft (vgl. auch Anm. 416). 
531 Vgl. A. Neschke-Hentschke, Vorwort zu Zimbrich [1994] (IX-XIV); dort 
auch zur langen Tradition, „die ‘Politeia’ ausschließlich als eine politische 
Schrift zu lesen“ (X). 
532 Überliefert sind auch andere Titel. Zur Überlieferung des Dialogtitels 
“Politeia’ vgl. Boter [1992]. 
533 Daß dieser Titel irreführt, ist oft empfunden worden. Siehe etwa Anders- 
son [1971] 192: “But the Republic is not, as it may seem, primarily a book on 
politics. It is professedly a book on human character”. Noch deutlichere Worte 
findet z.B. Egermann [1959] 133. Für ihn handelt die “Politeia’ „überhaupt 
nicht, wie der bloße Titel zunächst vermuten ließe, über staatliche Einrichtun- 
gen und staatliche Organisation, sondern über die richtige innere Verfassung 
(591e. 590e. 605b) als die Quelle der äußeren staatlichen (544d) und als die 
Grundlage eines wahren und glücklichen Lebens für den einzelnen wie für die 
ganze staatliche Gemeinschaft“.
	        
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