G. Die Konzeption der politischen Ordnung
199
binden. Allerdings wird, und dies hat offenbar Methode, an be-
kannte und typische Züge immer wenigstens angeknüpft, was die
Vorstellungen der Partner bindet und die sokratischen Gedanken-
experimente in der Empirie ‚verankert‘: 547
So wird die Timokratie, die an den Kriegerstaat Sparta erinnern
soll, zunächst {547e3) dargestellt als politische Ordnung, in der
streitbare Menschen regieren;°*8 kurz darauf wird sie (und damit
endet nicht nur die Ähnlichkeit zu bestehenden Verfassungen, son-
dern Termini wie ‚Verfassung‘ und ‚Herrschaft‘ gewinnen selbst ei-
nen neuen Sinn) zur ‚Regierung‘ der Streitlust stilisiert (548 c 5).
Die Oligarchie wird unter Anknüpfung an ein politisches Schlag-
wort zunächst als Herrschaft der Reichen (550c11-d1) eingeführt,
präsentiert und kritisiert jedoch im folgenden vor allem als ‚Herr-
schaft‘ der Geldgier, was nicht dasselbe ist;5*? am Fehler der
Geldgier, der sich weder am politischen Aufbau der Oligarchie
festmachen noch allein auf dieses politische System beschränken
1äßt,5°0 soll die Oligarchie auch zugrundegehen (555b9-10). Die
Demokratie wird zunächst zwar eingeführt als eine ‚Herrschaft der
Armen‘ (557a2-5), beschrieben und kritisiert jedoch als ‚Herr-
schaft‘ maßlosen Freiheitsstrebens, das zur Anarchie und zuletzt
konsequenterweise zum Ende der Demokratie führt (562b9-c3);
über das Selbstverständnis der realen Demokratie, die sich nicht
Freiheit und Rechtlosigkeit, sondern Gleichberechtigung (Isonomie)
zum Ziel setzt, geht Sokrates dabei hinweg. Die Darstellung der
547 7u den folgenden Beispielen vgl. jeweils den Kommentar zur betreffen-
den Passage. Zur Verankerung in der Empirie oben Anm. 363.
548 Daß dies nicht die Definition eines politischen Systems ist, dürfte freilich
klar sein. Für das politische System macht es, um nur an eine Selbstverständ-
lichkeit zu erinnern, einen beträchtlichen Unterschied, ob die streitlustigen
Menschen etwa als absolute Alleinherrscher regieren, sich den Gesetzen unter-
ordnen oder ob sie (als demokratische Amtsinhaber) gar der strengen Rechen-
schaftspflicht der athenischen Demokratie unterworfen sind, Politische Systeme
im üblichen Verständnis des Worts sind nicht beschrieben durch die Nennung
des regierenden Charakters, sondern (u.a.) durch die Präzisierung von Art, Le-
gitimation und Machtvollkommenheit der Herrschaft (sowie durch institutionelle
und gesetzliche Faktoren). Diese Punkte läßt Sokrates jedoch offen,
549 Vgl. 550d9-551a11. 554a2-4. 555a8-b2. 562a10-c3 u.a. — Dazu
auch oben S.142f.
550 Auch demokratische Politiker oder Tyrannen können geldgierig sein —
wie Sokrates’ eigene Darstellungen implizieren (etwa S564e4-565b1.
568 d 4-e6).