Full text: Dialogform und Argument

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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele 
Tyrannis schließlich ist weniger die Beschreibung einer Herr- 
schaftsform als eine Krankheitsgeschichte des Tyrannen. 
Gängige politische Kennzeichnungen (wie die Kennzeichnung der 
Oligarchie als ‚Herrschaft der Reichen‘) kommen also zwar vor, 
dienen aber oft nur als Anknüpfungspunkt und sind auch nicht die 
eigentlichen Objekte der sokratischen Kritik. Sokrates kritisiert 
nicht, daß nur einzelne oder alle, daß Soldaten, Reiche oder Arme 
herrschen, sondern er kritisiert übermäßige Geltungssucht, uner- 
sättliches Geldstreben, überzogenen Freiheitsdrang und hemmungs- 
losen Machttrieb. Die Fehler der schlechten Ordnungen sind nicht 
lokalisiert in der Zahl oder Schichtzugehörigkeit der Regierenden, 
sondern in ihrer Ausrichtung an falschen Werten und verfehlten 
Lebenszielen. °1 
Die sokratische Kritik an den Verfassungen ist auch keine Kritik 
am politischen System, seiner gesetzlichen Grundlage oder seinen 
Institutionen; weder spricht Sokrates von Fehlern im staatsrechtli- 
chen Aufbau der Ordnungen noch spricht er von sozialen Un- 
gleichgewichten, fehlender Legitimation oder institutionellen 
Schwachstellen. Kritisiert wird nicht die politische Organisations- 
form, der Staat, sondern kritisiert werden die falschen Ziele und 
Lebensweisen der Menschen in der Polis. Für den staatsrechtli- 
chen Aufbau und die machtpolitischen Konstellationen der Verfas- 
sungen zeigt Sokrates wenig Interesse. Was in einer politischen 
Analyse (oder der Analyse eines Verfassungswandels) der Kern 
sein müßte, wird in der ‘Politeia’, wenn überhaupt, nur am Rande 
erwähnt. °°2 
551 Wie nicht anders zu erwarten, stellt Sokrates den Konnex zwischen den 
gängigen Verfassungsnamen und den ihnen neu zugeordneten Lebenszielen in 
der denkbar suggestivsten Weise her: Es ist höchst einleuchtend, wenn das 
Streben nach Ruhm mit dem Kriegerstaat, das Streben nach Reichtum mit der 
Oligarchie, das Streben nach Freiheit mit der Demokratie und das Streben nach 
Macht mit der Tyrannis in Verbindung gebracht wird. Zwingend ist die Verbin- 
dung natürlich nicht: Auch der Oligarch kann machtgierig sein (siehe Theo- 
phrast, ‘Charaktere’ 26), das Streben nach Ehre und Überlegenheit mündet 
nicht zwangsläufig in ein Streben nach Herstellung der lakonischen Ordnung 
und ein Streben nach Reichtum nicht zwangsläufig in Parteinahme für die Olig- 
archie (vgl. S.95f.). Der Zusammenhang, den Sokrates zwischen der alten und 
der neuen Verwendung der politischen Termini herstellt, liegt auf der Ebene 
des Suggestiven. Vgl. Ryffel [1949] 98 und Hellwig [1980] 168. 
552 Aus diesem Befund zieht Bien [1990] 64 das Fazit: „Platons ‘Politeia’ 
ıst, so betrachtet, ein gänzlich unpolitisches Buch“.
	        
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