Einleitung
Behandelt werden in den folgenden Kapiteln Fragen, die sich dem
Verfasser bei der Arbeit am Kommentar zu ‘Politeia’ VIII-X ge-
stellt haben, deren Relevanz jedoch über diesen Abschnitt hinaus-
reicht.
Um die Funktion, den Status und letztlich den Sinn einzelner
Abschnitte des Dialogs verstehen zu können, muß man von seiner
zentralen Fragestellung ausgehen (Kap.I). Im Zentrum der ‘Poli-
teia’ steht die Frage, ob es vernünftig ist, gerecht zu sein. Be-
handelt wird diese Frage nicht in der Form einer neutralen Prü-
fung, sondern die Dialogfiguren beziehen Position und verfechten
Thesen, die ein gerechtes Leben sinnvoll oder unsinnig erscheinen
lassen. Gedrängt von den Brüdern Glaukon und Adeimantos, für
die die Frage ein besonderes Gewicht hat, entwickelt Sokrates ein
großangelegtes Argument zugunsten seiner These, daß Gerechtsein
nützt; dieses Argument gründet freilich, wie sein Urheber deutlich
zu verstehen gibt, nicht auf gesichertem Wissen, sondern ist als
Improvisation anzusehen. Platon hat eine Ausgangssituation ge-
staltet, die es Sokrates ermöglicht und ihn verpflichtet, für die
Gerechtigkeit einzutreten, auch ohne damit den Anspruch sicheren
Wissens zu verbinden.
Die Konzeption der Themafrage läßt an sich einen Glücksver-
gleich zwischen der vollendet guten und der vollendet schlechten
Ordnung in der Seele erwarten. Stattdessen werden jedoch meh-
rere, und zwar vier schlechte Ordnungen behandelt, womit sich
auch die Frage nach Auswahl und Reihenfolge stellt. Den Grün-
den für diese Gestaltung geht Kap.lI nach. Für Mehrzahl, Aus-
wahl und Reihenfolge lassen sich sachliche und darstellerische
Motive vermuten, die der Autor allerdings nicht zur Sprache
bringt; die Vierzahl der schlechten Ordnungen scheint hingegen,
obgleich sie als eigenständiger Punkt vorweg eingeführt wird, al-
lein mit der Auswahl erklärbar. Damit wird unter anderem die An-
nahme überflüssig, in Auswahl und Reihenfolge der schlechten
Verfassungen spiegelten sich Platons politische Präferenzen.
In Kap.III wird die Frage behandelt, weswegen Sokrates eine
Auseinanderentwicklung der vier ungerechten Ordnungen darstellt,
anstatt die Ordnungen einfach nacheinander zu beschreiben. Wie-
der liegt die Erklärung nahe, daß Platon sich damit darstellerische
Vorteile verschafft: Erstens etabliert die Schilderung eines Verfas-
sungsverfalls eindeutig die Rangfolge der Verfassungen, während
sich bei einer bloßen Aufzählung gelegentlich Unklarheiten ergäben