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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele
benskonzeptionen unter Gefahr von Mißverständnissen mit den ge-
läufigen Verfassungsnamen verbindet. Auch die Interpreten, die
gesehen haben, daß in der ‘Politeia’ nicht Verfassungen im übli-
chen Sinn beschrieben werden, äußern sich hierzu nicht näher.°5®
Festzuhalten ist zunächst, daß eine Terminologie für die seeli-
schen Zustände, die Sokrates beschreiben möchte, nicht zur Ver-
fügung steht. Sokrates schafft in der ‘Politeia’ nicht nur eine neu-
artige Konzeption von der menschlichen Seele und ihren Verfaßt-
heiten, sondern er schafft auch die zu ihrer Beschreibung notwen-
dige Begrifflichkeit. Dabei muß Sokrates, um sich verständlich
und seine Ausführungen glaubhaft zu machen, begriffliche Anknüp-
fungspunkte finden, die im Vorstellungsraum der Partner (und der
Leser) verankert sind.°°’ Auch diesem Zweck dient offensichtlich
die Analogie zwischen Polis und Seele. Aus ihr ergeben sich Mo-
tive für die Umprägung politischer Begriffe zu Bezeichnern seeli-
scher Zustände (1). Weitere Motive ergeben sich aus der Anlage
des sokratischen Gedankenexperiments (2).
Ad 1: Im Rahmen des Analogieverfahrens dürfte sich die Ver-
wendung gleicher Epitheta für politische und seelische Ordnungen
empfohlen haben, denn dies etabliert die wechselseitige Zuord-
nung. Die Frage, weshalb der geldgierige Mensch gerade der olig-
archischen Polis entsprechen soll, stellt sich gar nicht, wenn man
stattdessen vom oligarchischen Menschen spricht. 58
556 Vgl. oben Anm.517. — Wo Antworten versucht werden, beziehen sie
sich eher auf den Punkt, weshalb Platon die Zuordnung so vornimmt, wie er
sie vornimmt, nicht darauf, weshalb er sie überhaupt vornimmt. — Ähnliches
gilt für Hellwig [1980] 63-65, die das genannte Erklärungsdefizit ebenfalls
diagnostiziert hat. Ihre eigene Deutung ist getragen vom Bemühen, hier (ihrer
Grundthese folgend) Ansätze zu dihairetischem Vorgehen zu erkennen: Platon
gehe vom konventionellen Namen aus, eliminiere das Unwesentliche und Zufäl-
lige und behalte die konstitutiven Merkmale zurück. Bei dieser Erklärung blei-
ben m.E. mindestens zwei Fragen offen: Weshalb sollte Platon das Streben
nach Reichtum als das konstitutive Merkmal jeder Oligarchie angesehen haben
(vgl. S.95f.)? Und weshalb ist Platon dann den Umweg gegangen, anstelle des
konstitutiven Merkmals — der Geldgier — die oligarchische Verfassung darzu-
stellen?
557 Vgl. unten S. 253-256.
558 Die Gleichheit der Bezeichnung suggeriert das Bestehen einer Ähnlich-
keit; vgl. 435a5-8 &o’ o0v, Hıv 8° yo, S ye tadtöv Äv TIG NOOGELNOL MEICOÖV
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SuU0oL0v: — SÖuoLov, Ken. Daß oligarchischer Mensch und oligarchische Polis