G. Die Konzeption der politischen Ordnung
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Schwierigkeit stellt zu entscheiden, wer der schlimmste Tyrann
und welche Form der Tyrannis die extreme Form der Ungerechtig-
keit ist, die man benötigt, um die in Aussicht genommene Prüfung
am Extrem durchführen zu können. Sokrates vermeidet solche Un-
klarheiten und macht sich zudem die bereits bestehende Bewer-
sung der Tyrannis als der ungerechtesten Herrschaftsform zunutze,
indem er die Tyrannis nicht in Spielarten einteilt, sondern als die
extreme Spielart der Ungerechtigkeit neben andere politische Sy-
steme stellt, die als Repräsentanten je einer eigenen Form der
Ungerechtigkeit gezeichnet werden.°2 Die sachlich einsichtige Be-
gründung für die politische Konzeption des vollendet ungerechten
Menschen aber hat Sokrates damit auf den Kopf gestellt: Aus der
vollkommen verständlichen Aussage, der vollendet Ungerechte
müsse, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen, Tyrann sein,
wird in der ‘Politeia’: Der Tyrann ist vollendet ungerecht.
Platons Motive, so vorzugehen, wie er vorgeht, scheinen jeden-
falls einsichtig. 5°
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Als Fazit ergibt sich: Der sogenannte Verfassungswandel der ‘Poli-
teia’ ist primär weder eine politische Analyse noch eine politische
Stellungnahme, °** sondern er ist vor allem eine kritische Bewer-
tung von Lebensformen und hinter ihnen stehenden Glückskonzep-
tionen. Daß das Verfahren, gängigen Begriffen neue Inhalte zuzu-
562 Mit dieser Entscheidung ist, angesichts der eindeutigen Zuordnung von
Herrschaftsform und Charaktertypus, die charakterliche Einseitigkeit des Ty-
rannen der ‘Politeia’ festgeschrieben: vgl. Anm. 199 sowie S.147-149.
563 Hinzugekommen sein mögen darstellerische Vorzüge der von Platon ge-
wählten Lösung: Die terminologische Einbeziehung des politischen Raums mit
seinen Bezügen und Assoziationen bot dem Schriftsteller reiches Material, er-
öffnete ihm Spielraum für die Einflechtung realistischer Züge und machte so
die Darstellung glaubwürdiger und interessanter, Hinzu kommt die sich bie-
;‚ende Möglichkeit, die Wechselwirkungen und Einflüsse einbeziehen zu kön-
ı1en, die zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft bestehen. Auch das
Darstellungsprinzip des Verfassungswandels mit seinen darstellerischen und
"unktionalen Vorteilen (vgl. Kap.III, B) ergab sich am einfachsten aus der von
Sokrates gewählten Alternative.
564 Damit ist nicht grundsätzlich die Möglichkeit abgestritten, daß die funk-
ional eingeführten politischen Darstellungen sich über den ursprünglich inten-
dierten Zweck hinaus verselbständigen konnten; eine solche Annahme wäre je-
doch konkret zu belegen (vgl. oben S.166f. mit Anm.458).