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V. Seele und Seeleninstanzen
dem Bestreben dient, deren zu postulierende Dreizahl mit einem
unabhängigen Sachargument abzusichern;°* denn mit Verweis auf
das Faktum, daß Menschen offensichtlich unterschiedliche Lebens-
ziele verfolgen (Konzeption 2b), hätte man die drei Seeleninstan-
zen nicht einführen können.°* Die Erklärung motivationalen Kon-
flikts (2a) dient somit der Einführung der Seeleninstanzen, die für
Konzeption 2b benötigt werden; 2b_selbst_aber steht im Dienste
des Analogieverfahrens und, somit_des Beweisziels.
Diese Folgerung ist allerdings nicht Gemeingut der Interpreten.
Vielmehr wird aus dem Faktum, daß in der Passage 439a1l-441c 8
motivationaler Konflikt mit dem Wirken der drei Seeleninstanzen
erklärt wird, gefolgert, die Einführung der Seeleninstanzen diene
eben dieser Erklärungsabsicht.®*° Diese Annahme kann jedoch,
wenn man den durchsichtigen Zweck der Passage, ihre Singularität
im Dialog und die Funktionslosigkeit einer Erklärung motivationa-
len Konflikts im sokratischen Argument beachtet, kaum richtig
sein; sie stellt vielmehr die m.E. evidenten Tatsachen auf den
Kopf: Der motivationale Konflikt wird nicht eingeführt, weil er
selbst erklärt werden soll, sondern er dient als Mittel zur Einfüh-
rung der Seeleninstanzen. Hier wird kein Lehrstück platonischer
6544 Vgl. Kap. IV, E.
545 Die Gründe dafür nennt Sokrates selbst in 435e1-436b 4; damit gibt So-
krates sein Motiv für die folgenden Ausführungen im Grunde deutlich zu
erkennen.
546 Nicht wenige Interpreten vermuten hinter der Seelenvorstellung der ‘Poli-
teia’ und speziell hinter der Dreiteilung der Seele den Versuch, motivationalen
Konflikt zu beschreiben und zu erklären. Darin soll eine bewußte Distanzierung
von der (offenbar vom historischen Sokrates vertretenen) Theorie zum Ausdruck
kommen, daß der Mensch nicht wider besseres Wissen handeln kann. Um diese
sokratische Lehre zu widerlegen, habe Platon die ‚Willensschwäche‘ (Akrasie)
des Menschen durch sein dreiteiliges Seelenmodell begreiflich gemacht. Diese
Ansicht, die etwa Irwin [1977] 191 apodiktisch formuliert, Cooper [1984] 3 als
“by now well accepted” bezeichnet, vertritt auch Reeve [1988] 131-135: “On
this reconstruction of its origins, the theory of the divided psyche was develo-
ped in response to Socrates’ paradoxical views on akrasia, and completely un-
dermines them“ (135). (Zu 588c6, wo der Sokrates der ‘Politeia’ wieder das
Prinzip 00Seig &x6dv Auaptdver im Munde führt, äußert sich Reeve nicht.)
Weitere Arbeiten bietet die Literaturübersicht bei Bobonich [1994]. Vgl. auch
die folgende Anmerkung.