A. Die Konzeption der Seeleninstanzen
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Psychologie entwickelt,°*7 sondern ein Anlaß gefunden, die für das
Argument erforderlichen Bedingungen in der Seele herzustellen.
Wäre es anders, so müßte Sokrates den sachlichen Unterschied
zwischen den Konzeptionen 2a und 2b offenlegen und erläutern;
stattdessen bleibt der Übergang von der einen Konzeption zur an-
deren jedoch verdeckt. °48
Nicht immer freilich ist der fundamentale Unterschied zwischen
den Konzeptionen 2a und 2b überhaupt bemerkt worden. Ge-
nauere Beachtung geschenkt haben ihm Interpreten wie Kraut, Ir-
win und Klosko;°*? vor allem letzterer ist in mehreren Arbeiten
darauf eingegangen. Seine auf Systematisierung ausgerichtete Er-
klärung bedarf jedoch einer terminologischen und zweier sachlicher
Korrekturen: ©%
647 Über das Phänomen der Akrasie wird im übrigen, was auch dem Leser
einschlägiger Arbeiten in der Regel allerdings gar nicht mitgeteilt wird, nir-
gendwo in der ‘Politeia’ explizit, implizit nur in der oben zu 2a genannten
Passage gesprochen. Daß das Akrasiephänomen außerhalb der einen Passage in
Buch IV nirgendwo mehr auftaucht — weder explizit noch implizit —, beruht
nun allerdings nicht auf mangelnder Präsenz der Seeleninstanzen; diese näm-
lich sind im Text, v.a. in den Büchern IV, VIII und IX, noch häufig vertreten,
haben aber an allen übrigen Stellen offensichtlich andere Funktionen als die,
Akrasie zu erklären. Dieser Befund, der meines Wissens nirgendwo präzise ger
nannt ist, macht es, um das mindeste zu sagen, höchst zweifelhaft, ob Platon
das Seelenmodell der ‘Politeia’ tatsächlich am Akrasiephänomen orientiert hat.
— Im übrigen unterbleibt in Arbeiten, die sich zur angeblichen Erklärung der
Akrasie in der “‘Politeia’ äußern, regelmäßig die Reflexion darüber, welchen
Stellenwert eine solche Erklärung innerhalb des sokratischen Arguments haben
könnte; wieder ist das Verfahren am Werk, einzelne Abschnitte der “Politeia’
aus ihrem argumentativen Zusammenhang abzulösen und wie eigenständige Ab-
handlungen zu lesen, die im Textganzen keine Funktion zu besitzen brauchen
(vgl. die Einleitung).
648 Der Übergang zwischen den beiden ganz unterschiedlichen Arten von An-
trieben erfolgt unvermerkt und stillschweigend zwischen 439b3-441c3 und
441 d 5-442b 10 (unter Einführung des Terminus &oxN ‚Herrschaft‘); nirgendwo
im Dialog wird der Unterschied thematisiert. Vgl. oben Anm. 519.
649 Kraut [1973b]; Irwin [1977] 226-233; Klosko [1982 etc.]; ferner etwa
Cooper [1984]; Dahl [1991] 818-822. In nuce findet sich die (offenbar mehr-
mals ‚entdeckte‘) Differenzierung bereits in älteren Arbeiten (etwa bei Rees
[1957] 112); unbeachtet bleibt sie jedoch wieder bei Rist [1992], was den Wert
dieser Arbeit schmälert.
650 Ich beziehe mich im folgenden, soweit nicht anders angegeben, auf
Kloskos neueste Arbeit zum Thema (Kiosko [1988)).